Die Heilanstalt (German Edition)
loslässt, bis er zum Bersten gesättigt oder nichts Fressbares mehr übrig ist. Das Scheusal erhielt die Saugkraft aufrecht, bis der bunte Lichtstreifen versiegte und der Leib von Wallensteins nur noch eine leere Hülle war, die als schrumpeliger Hautlappen zu Boden sank. Nach diesem Mahl leckte sich das Biest erneut die Lippen, stöhnte zufrieden und bleckte die Zähne.
Janick verstand, worüber er so viele Jahre gerätselt hatte; die Erkenntnis stieg so schlagartig in sein Bewusstsein, dass sich ihm der Magen umdrehte: Die Menschen dienten diesen Kreaturen als Nahrung. Sie waren für sie Schlachtvieh, das im Stall gemästet wurde, bis es fett genug war, um zur Schlachtbank geführt zu werden. Die Heilanstalt war mehr als nur ein Gefangenenlager; es war ein Kokon, in das die Wesen ihre Beute wie eine Spinne einwoben, ein klebriges Netz, bestehend aus ihrem körpereigenen Saft, jener türkisfarbenen, betäubenden Flüssigkeit. Dieses Gift raubte den Menschen ihre wichtigste Waffe: den Verstand. Zudem trennte es den menschlichen Geist offenbar vom Körper, sodass er für die Kreaturen essbar wurde. Janick begriff, dass sie keine Geschöpfe der gegenständlichen Welt waren, sondern aus einer höheren Daseinsebene stammten, auf der die Dinge keine festen Formen besaßen. Wie sonst ließen sich ihre Verwandlungskünste erklären? Wie war es ihnen anders möglich, beliebig ihr Äußeres zu verändern oder einen Haufen Kieselsteine in Lebensmittel zu transformieren?
Als wollte sie Janicks Überlegung bestätigen, verwandelte die Kreatur sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurück. Die Muskelberge schmolzen wie tauende Eisskulpturen, der gewaltige Buckel sank zu einem menschlichen Nacken herab, die langen Arme verkürzten sich, und die Klauen wurden wieder zu Händen mit gepflegten Fingernägeln. Der aufgedunsene Wanst verschwand, der Hals wurde dünner, und die Fratze verwandelte sich in ein knöchernes Gesicht. So verlor das Wesen in wenigen Augenblicken alles Dämonenhafte und nahm schließlich wieder die Gestalt des hageren Herrn an, über dessen nackter Haut sich zuletzt ein feiner Anzug mit Hemd und Krawatte spannte.
Das hohe Reich
Mit versteinerter Miene sah Janick in die roten Augen des wiedererschienenen Mannes.
»Was seid ihr für Wesen, dass ihr alles nach eurem Willen formen könnt?«
Der Herr lächelte und trat näher ans Bett heran. »Als Kind hast du für uns ein so passendes Wort gefunden. Zauberer nanntest du uns einst im Erstaunen.«
Janick erschrak, als hätte die Kreatur ein Geheimnis erraten, das er tunlichst verbergen wollte.
»Ja, wir sind uns schon begegnet«, sagte der Herr, der Janicks überraschten Gesichtsausdruck zu genießen schien. »Vor vielen Jahren haben unsere Blicke sich getroffen. Und in deinen Augen standen Ehrfurcht und Bewunderung.«
Janicks Miene verdüsterte sich. »Damals war ich noch ein Kind und habe nicht erkannt, welches Leid ihr uns zufügt. Mein Erstaunen ist längst in Abscheu umgeschlagen.«
Der Herr verzog das Gesicht vor Empörung. »Wie kannst du es wagen, unser hohes Streben derart unwürdig zu beschreiben!«, knurrte seine eisige Stimme. »Ist dein Geist so einfältig, dass dir unser heiliges Ziel verschlossen bleibt?«
»Hohes Streben, heiliges Ziel!«, rief Janick und lachte abfällig. »Ihr seid Raubtiere, die ihre Beute hinterhältig in eine Falle locken, um ihr die Eingeweide herauszureißen! Was an euch ist heilig? Ihr seid Kreaturen der niedersten Art, die die menschliche Seele vom Körper lösen wie das Fleisch von den Knochen, um sie wie ein noch schlagendes Herz zu verschlingen!«
Der Herr verharrte in Schweigen; seine roten Augen zitterten vor Bestürzung in den eingefallenen Höhlen. Janick gefiel die sichtliche Entrüstung der Kreatur; er verspürte wieder jenes warme Gefühl der Erhabenheit.
»Ihr seid zu schwach, um meinen Geist zu kontrollieren!«, rief Janick lachend. »Womit wollt ihr mir drohen? Tötet mich! Mir liegt nichts daran, in mein altes Leben zurückzukehren! Diese verfinsterte und bitterkalte Welt, die mir nichts als Schmerz und Leid gebracht hat, kann mir gestohlen bleiben! Reißt mir das Herz aus der Brust und zerquetscht es zwischen euren gewaltigen Klauen! Davor habe ich keine Angst! Eher wäre es mir eine Erlösung!«
Das Wesen schien im ersten Moment versucht, Janicks Aufforderung nachzukommen und ihm mit einem blitzschnellen Griff zum Hals das Genick zu brechen. In seinem knochigen Gesicht brodelte Zorn, der nach
Weitere Kostenlose Bücher