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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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nur Erwachsene waren unter den vermoderten Leichen, sondern auch Kinder und Neugeborene, deren kleine Schädel zahnlos ins Leere starrten. Sie durchquerten ein Meer gebrochener Rippen, Becken und Schlüsselbeine, gebogener Wirbelsäulen und gesplitterter Hand-, Fuß- und Armknochen. Judith ertrug diesen Anblick nicht lange und brach schon bald in Tränen aus. Janick hielt sie fest und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie nicht so enden würden.
    Doch nachdem er sie auf den Hügel geführt hatte, fort von jenem grablosen Menschenfriedhof, sah er sich mit elender Miene in der allumfassenden Dunkelheit um und fühlte sich plötzlich so hoffnungslos verloren, dass auch er am liebsten weinen wollte. Rings umher erstreckte sich die Welt als grenzenlose Steinwüste, die sich im Zwielicht nur in schattenhaften Umrissen zeigte. Der Himmel zog als brodelndes Wolkenmeer über sie hinweg und schien das Ende der Zeit zu beschwören. Janick konnte nicht mehr sagen, wann sie aufgebrochen waren; das Zeitgefühl war ihm völlig verloren gegangen. Er glaubte, sie würden schon seit Stunden durch die düstere Kälte wandern, doch die Bergkette schien noch so fern wie zu Beginn.
    Erst jetzt wurde ihm die Gefahr der toten Außenwelt bewusst, die weder Unterschlupf noch Nahrung bot. Janick schluckte trocken und leckte sich die Lippen, die vom Wind ganz spröde waren. Es war, als hätten sie durch ihre Flucht aus der Heilanstalt eine Lebensgefahr gegen eine andere eingetauscht. Sie mussten den Bach finden, der ihnen in diesem finsteren Irrgarten als Ariadnefaden dienen würde. Ohne ihn waren sie hier draußen ebenso todgeweiht wie in den Fängen der Kreaturen.
    Janick hielt Judith noch einen Moment lang fest und rieb ihre frierenden Hände. Sie war immer noch sichtlich verängstigt und verstört wegen jener menschlichen Überreste. Janick tat es leid, dass er ihr nichts Tröstliches zu sagen wusste und sie nur schweigend durch die Düsternis führen konnte. Judith klammerte sich an ihn und stieß kleine Atemwolken aus Mund und Nase; sie presste den Kopf mit geschlossenen Augen an Janicks Schulter, derweil sie sich gedanklich an hellere Orte in schöneren Zeiten versetzte.
    Janick schritt beharrlich mit ihr voran und knipste zuweilen die Taschenlampe an, da er in der Ferne ein sich schlängelndes Gewässer zu erkennen glaubte. Doch die Entdeckung erwies sich stets als optische Täuschung im ewigen Halbdunkel. Sie kamen an weiteren Felsen vorbei, zwischen denen verwelkte Gewächse wie Spinnennetze im Wind schaukelten. Sie stießen immer wieder auf vertrocknetes Buschwerk und abgestorbene Bäume. An manchen Stellen lagen weitere Knochenreste, jedoch so klein, dass sie wohl von Tieren stammten. Janick schaltete die Lampe stets aus, wenn sie an solchen Skeletten vorübergingen, um zu verhindern, dass Judith sie sah. Allerdings schien sie ohnehin kaum aufnahmefähig und setzte nur noch schlafwandlerisch einen Fuß vor den anderen. Kilometerweit durchwanderten sie das wüste Land, das aus gespenstischen Schatten und Konturen bestand. Bisweilen glaubte Janick Bewegungen im Dunkeln zu bemerken und knirschende Kiesel zu vernehmen, als wären sie von Raubtieren umgeben, die auf den richtigen Augenblick warteten, um über sie herzufallen. Wenn der Wind auffrischte und um scharfe Felsen pfiff, glaubten sie das Heulen der Kreaturen zu hören, die ihnen wutschnaubend nachjagten. Janick hielt die Taschenlampe dann wie eine Schusswaffe in der Hand und steckte sie niemals weg.
    Die Welt mochte tot und verlassen sein, doch ihre Angst erweckte sie zu dunklem Leben. In jeder Silhouette erkannten sie menschenfressende Ungeheuer, die jederzeit hervorspringen mochten, um ihnen die Kehle durchzubeißen. Die Furcht versengte ihre Eingeweide und ließ sie ebenso sehr zittern wie der Wind. Ihre Hoffnung, jenen Bach noch zu finden, schwand in dem Maße, wie ihre Beine ermüdeten und ihre Körper auskühlten.
    Als von ihrer Zuversicht nicht mehr viel verblieben war und einer tiefen Verzweiflung zu weichen drohte, gelangten sie an eine windgeschützte Stelle inmitten flacher Findlinge. Dort lagen – sorgsam aufeinandergestapelt – einige verkohlte Holzscheite. Janick blieb mit offenem Mund vor der verlassenen Feuerstelle stehen und spürte sein Herz höher schlagen.
    »Judith! Sieh doch!«
    Sie öffnete mühsam die Augen, als würde sie aus tiefem Schlaf erwachen. Erschöpft blickte sie auf das aufgeschichtete Brennholz und schien kaum zu begreifen, was es zu bedeuten

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