Die Heilanstalt (German Edition)
und betrachtete die beiden Flüchtlinge am Fuß der Treppe mit aufgerissenen Augen. Seine Nase war eingegipst und seine Oberlippe verkrustet. Janick erkannte den Mann sofort wieder, dem er diese Verletzungen im Zuge seines Fluchtversuchs beigebracht hatte. Nachdem der Koloss sein Erstaunen überwunden hatte, stürmte er auf die Ungeheilten zu. Janick fletschte die Zähne und ballte die Fäuste, um sich auch diesmal zu wehren. Doch bevor es zu einer erneuten Konfrontation kommen konnte, blieb der kahlköpfige Kerl plötzlich stehen, als Judith sich ihm mit ausgebreiteten Armen in den Weg stellte.
»Leo, hör auf!«
Der Riese verharrte mit verwirrter Miene an Ort und Stelle, während Judith eindringlich in seine getrübten Augen blickte. Sie näherte sich ihm so bedächtig wie einem ausgerissenen Pferd, das jederzeit scheuen mochte.
»Was tust du denn!«, flüsterte Janick. Er wollte sie zurückhalten, doch Judith machte sich von ihm los und ging weiter auf den glatzköpfigen Mann zu, der sie mit erstauntem Gesicht und offenem Mund ansah.
»Leo, das ist dein wirklicher Name, nicht wahr?«
Der Koloss verzog das Gesicht und atmete unruhig. Mehrmals bewegte er sich ruckartig nach vorn, als wollte er Judith ergreifen, doch schien jedes Mal von einer inneren Kraft zurückgehalten zu werden.
»Wir sind uns einmal in der Außenwelt begegnet«, fuhr Judith fort. »Du bist ein Mensch, so wie wir. Wir sind nicht deine Feinde. Diese Kreaturen sind es.«
Der schwergewichtige Kerl zitterte und wankte unschlüssig; in seinem Inneren schienen zwei entgegengesetzte Mächte um die Vorherrschaft zu ringen.
»Sie belügen uns, tief in deinem Inneren weißt du es«, sagte Judith, während sie sich dem Riesen weiter näherte. »Aber wir werden ihre Lüge überwinden und die Wahrheit zurückerobern.«
Der Mann wimmerte, kniff die Augen zusammen und presste seine Handflächen auf die Schläfen. Judith erreichte ihn und berührte sanft seinen kräftigen Arm.
»Wir werden vorangehen, und andere werden uns folgen«, flüsterte sie. »Bitte lass uns vorbei, damit wir den Anfang machen können. Wir werden uns gegen diese Wesen erheben, so wie es einmal dein Wunsch gewesen ist.«
Der kahlköpfige Mann keuchte, sank auf die Knie und knirschte mit den Zähnen.
»Dann flieht …«, brachte er mit bebender Stimme hervor und drückte weiterhin die Hände auf die Schläfen. »Flieht … flieht von hier …«
Judith flüsterte dem kräftigen Mann ihren Dank ins Ohr und versprach ihm, dass sie schon bald wiederkämen. Dann nahm sie Janicks Hand, der das Geschehen mit höchstem Erstaunen verfolgt hatte, und lief mit ihm die Treppe hinauf.
»Geht! Geht weg von hier! Geht!«, stöhnte der Mann immer wieder mit verkrampfter Miene, nachdem Janick und Judith längst in die Außenwelt geflohen waren.
Die Außenwelt
Still und unbemerkt überschritten sie die Grenze vom schönen Schein zur rauen Wirklichkeit.
Ohne sich noch einmal umzuwenden, ließen sie die helle Welt des Sanatoriums hinter sich und traten in die immerwährende Finsternis, in der ein frostiger Wind sie wie Peitschenhiebe traf und am ganzen Körper zittern ließ. Schützend hielten sie einen Arm vors Gesicht und schritten so beschwerlich voran, als würden sie durch ein knietiefes Gewässer waten. Der Sturm ließ ihre Haare flattern und bescherte ihnen eine straffe Gänsehaut; schon nach kurzer Zeit spürten sie, wie ihre Muskeln sich verkrampften und ihre Haut vor Kälte brannte.
Sie froren, ja litten wahre Schmerzen, und doch umspielte ein sanftes Lächeln ihre Lippen; denn diese Welt, so düster und trostlos sie auch war, war die Wahrheit. Sie hatten die Illusion der Heilanstalt überwunden und verspürten in ihrem Inneren Erlösung und Freiheit, als hätte sich in ihrem Herzen ein Knoten gelöst.
Der Wind pfiff um nackte Felsen am Wegesrand, die im Zwielicht zum Himmel aufragten. Immer wieder blickten sie hinauf in einen brodelnden Kessel schwarzer Wolkenmassen, die so träge mit dem Wind zogen wie ein Fluss aus Öl. Doch nicht die bedrohliche Finsternis der Wolkendecke ließ sie aufblicken, sondern der orangefarbene Glanz, der wie eine frohe Botschaft durch sie hindurchschimmerte.
Die Sonne scheint noch , dachten sie in geistiger Verbundenheit und wechselten einen hoffnungsvollen Blick.
Janick zeigte auf ein nahes Loch in der Erde. Judith sah es und nickte betrübt. Als sie unmittelbar davor standen und hinabblickten, sahen sie die Stufen der Rolltreppe, die im ewigen
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