Die Heilanstalt (German Edition)
hatte.
»Menschen waren hier, vor Kurzem erst!«, rief Janick aufgeregt. »Wo Menschen sind, gibt es auch Wasser!«
Er ging in die Knie und richtete die Taschenlampe auf eine Ansammlung kleiner Gerippe. Dann lachte er vor Freude und Erleichterung … es waren die Gräten jüngst verzehrter Fische.
Die Hütte am Bach
Janick ging fortan mit neuer Zuversicht voraus und versprach Judith unentwegt, dass sie auf dem richtigen Weg seien und der Bach nun nicht mehr fern sein könne. Und tatsächlich mischte sich schon bald ins Heulen des Windes das sanfte Rauschen eines Wasserlaufs, dessen enges Bett sich kurz darauf in der Düsternis abzeichnete.
Janick riss die Augen auf und klatschte glücklich in die Hände. »Dort ist er!«
»Sind wir da?«, murmelte Judith. »Haben wir die Siedlung erreicht?«
Janick sah sie besorgt an und strich über ihr kaltes Gesicht; nach wie vor hielt sie die Augen zumeist geschlossen, und ihre Mundwinkel hingen schlaff herab.
»Noch nicht«, erwiderte Janick. »Aber von jetzt an brauchen wir nur noch dem Bach zu folgen. Er wird uns ans Ziel führen.«
Judith nickte, ohne die Augen zu öffnen, und ließ sich weiter von Janick stützen. Er machte ein betrübtes Gesicht und schürzte die Lippen; er wollte ihr nicht sagen, dass ihnen der Großteil des Fußmarsches noch bevorstand, wollte nicht darüber nachdenken, dass sie es vielleicht nicht schaffen würde.
Als sie das Ufer des Bachs erreichten, richtete Janick die Taschenlampe auf das rauschende Gewässer, um zu sehen, in welche Richtung es floss.
Diesem Bach folgt ihr entgegen der Strömung.
Wie sehr wünschte Janick, dass sie mit der Strömung zu wandern hätten; er würde Holz sammeln, ein Floß bauen und mit Judith den Bach zur Siedlung hinabtreiben. Es wäre so viel leichter auf diese Weise. Aber Thomas hatte ihm schon vor vielen Jahren erklärt, dass der Weg des geringsten Widerstands nie der richtige war. Janick biss die Zähne zusammen und schlug die von seinem Bruder vorgegebene Richtung ein.
Sie waren dem Bach noch nicht lange gefolgt, als Judith kaum noch stehen konnte und ihre Beine furchtbar zitterten. Sie hielt sich wie eine Ertrinkende an Janick fest und drohte einzuknicken, wie vor einigen Stunden im Zellentrakt des Sanatoriums, als sie vor jener Bestie geflohen waren. Doch vor der notwendigen Rast wollte Janick unbedingt noch einen markanten Schatten erreichen, den er seit einer Weile in der Ferne erkannte. Was er dort nahe dem Ufer zu sehen glaubte, war vermutlich nur ein Wunschtraum. Doch er wollte ganz sicher sein, ehe sie sich auf dem kalten Boden im Wind niederließen. Während sie sich dem Gebilde näherten, nahm es im Schein der Taschenlampe mehr und mehr die hoffnungsvoll erwarteten Formen an; zuerst wurde das Spitzdach sichtbar, kurz darauf die Backsteinwand und zuletzt eine hölzerne Eingangstür mit einem runden Knauf an der rechten Seite. Es war eine verwahrloste Hütte, die ihnen als fabelhaftes Ruhelager dienen würde. Janick konnte dieses Glück kaum fassen und rieb sich die Augen, um sicherzugehen, dass er nicht träumte.
»Wir werden dem verfluchten Wind für eine Weile entgehen, Judith.«
Sie antwortete nicht und ließ die Augen geschlossen. Sie hatte beide Arme um Janick geschlungen und schien die Beine nur noch im Unterbewusstsein zu bewegen, als wäre sie im Gehen eingeschlafen. So dringend sie dieser gefährlichen Außenwelt auch entkommen mussten, wusste Janick doch, dass Judith wenigstens ein paar Stunden Ruhe brauchte, ehe sie in der Lage wäre weiterzugehen.
Als sie die kleine Steinhütte erreichten, beleuchtete Janick sie von oben bis unten mit der Taschenlampe; die Frontwand war von Rissen und Bruchstellen übersät, und auf dem Dach fehlten die meisten Ziegel. Das Fenster rechts neben der Eingangstür war zum Glück unbeschädigt, wenn auch beinah undurchsichtig vor Schmutz und Staub. Janick spähte vorsichtig hindurch, um sich zu vergewissern, dass das Haus verlassen war. Anschließend drehte er den Knauf und stellte erfreut fest, dass die Tür sich öffnen ließ. Er zog sie knarzend auf und geleitete Judith ins Innere. Natürlich war das Zimmer unbeheizt, doch in der Windstille war es angenehm mild. Janick schlug die Kapuze zurück und sah sich mit großen Augen um. Auch Judith erwachte kurzzeitig aus ihrem Schlummer und ließ mit verkrampftem Gesicht den Blick umherwandern.
An der Außenwand, die dem Bach zugewandt war, gab es ein Fenster. Es war breiter, jedoch genauso dreckig
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