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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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auch wenn er manchmal unsichtbar war.
    Mit einem sanften Lächeln blickte er auf Judith und wusste, sie war seine Wahrheit, die wie ein wunderbares Licht durch die Risse der finsteren Fassade gedrungen war und ihm die Kraft verliehen hatte, die Täuschung zu überwinden. Wie die Wolkendecke, so wies auch die Scheinwelt der Heilanstalt Lücken auf und ließ bisweilen durchblicken, was sie so mühsam verheimlichte. Jedes Trugbild war fehlerhaft und flüchtig; nur die Wahrheit war vollkommen und für die Ewigkeit bestimmt. Sie mochte durch Schein und Illusion aus dem Blick geraten; doch letztlich brach jede Lüge in sich zusammen wie ein Kartenhaus im Wind, während die Wahrheit unvergänglich war und niemals die Gestalt wandelte.
    Janick legte sich zu Judith auf die Wolldecke und schmiegte sich eng an sie. In Gedanken sah er seinen Bruder, der voller Hoffnung vom wunden Punkt der Wesen sprach. Ja, sie waren angreifbar; sie besaßen eine Schwachstelle, und Thomas hatte sie entdeckt. Janick hatte ihm erzählt, wie hell die Welt einmal gewesen war, in welchem Glanz sie einst gestanden hatte. Und er erinnerte sich, was sein Bruder ihm geantwortet hatte, und ließ die Worte nun kurz vor dem Einschlafen in seinem Kopf widerhallen: So wird es bald wieder sein.
    »Ja, schon bald«, flüsterte Janick und legte schützend einen Arm um Judith. Kurz darauf verlor er das Bewusstsein und versank in einen wundervollen Traum leuchtender Himmel und blühender Linden, unter deren Kronen sich verliebte Paare küssten.

Ein Gespräch über Vergangenes
    Als er erwachte, war sie schon wach und sah ihn lächelnd an.
    Janick gähnte und reckte sich. Dann erwiderte er Judiths Blick sowie ihr Lächeln. Sie froren und waren hungrig, doch zugleich waren sie glücklich über ihr wohlbehaltenes Beisammensein.
    »Konntest du ein wenig schlafen?«, fragte er.
    Sie nickte. »So gut wie noch nie.«
    Janick lächelte wieder und richtete sich auf. Er begab sich zum Regal, nahm zwei leere Konservendosen heraus und ging mit ihnen zur Tür.
    »Wohin gehst du?«, fragte Judith. Zum ersten Mal merkte sie, wie ängstlich sie wurde, wenn er sich nur wenige Schritte von ihr entfernte.
    »Wir müssen etwas essen und trinken, bevor wir weitergehen«, erklärte Janick.
    Er trat hinaus in die stürmische Finsternis und kam wenig später mit den Dosen zurück, die nun bis zum Rand mit kaltem Flusswasser gefüllt waren. Er ließ sich wieder zu Judith auf die Wolldecke nieder und reichte ihr einen der beiden provisorischen Becher.
    »Danke«, sagte sie und bezog sich mehr auf seine rasche Wiederkehr als auf das Trinkwasser. Judith stillte ihren Durst, während Janick einige der Essensreste aus den Manteltaschen hervorholte, die sie aus der Heilanstalt mitgenommen hatten. Eine Weile stärkten sie sich schweigsam, bis Janick eine Frage stellte, die ihn seit der Flucht beschäftigte.
    »Woher kanntest du diesen kahlköpfigen Riesen, der sich uns in den Weg gestellt hat?«
    Judith antwortete nicht gleich; sie schälte eine Banane, biss hungrig hinein und zerkaute sie mit gefalteter Stirn.
    »Leo gehörte zu einer Nomadengruppe, der mein Vater und ich vor einigen Jahren in den Bergen begegnet sind«, sagte sie schließlich mit einer Miene, die zwischen Kummer und Nachdenklichkeit schwankte. Janick bemerkte es und wollte sich mit der kurzen Antwort nicht zufriedengeben; offenbar gab es noch mehr zu erzählen.
    »Was ist damals passiert?«
    Judith presste die Lippen zusammen und senkte den Blick, so als würde sie ihre Gedanken sortieren. »Unser Nahrungsvorrat war vor einiger Zeit zur Neige gegangen«, begann sie. »Wir waren ausgehungert und stießen durch Zufall auf eine Berghütte, eine der wenigen verbliebenen Bauten der alten Welt, die die Wesen noch nicht zu Stein verwandelt hatten. So wie dieses Häuschen …« Judith ließ flüchtig den Blick im Zimmer umherwandern. »Wir sahen vorsichtig durch ein Fenster und entdeckten im Inneren einige Menschen. Sie hatten den Kamin angemacht und grillten Fleisch. Mein Vater und ich trafen auf den abgeschiedenen Bergpfaden nur selten auf fremde Wanderer, und wenn es doch einmal geschah, traten sie uns zumeist abweisend oder sogar feindselig gegenüber. Wir wussten, dass wir lieber weiterziehen sollten. Aber wir konnten dem Anblick des gebratenen Fleischs und des herrlich lodernden Kamins nicht widerstehen und klopften an die Tür. Sofort wurde es still in der Hütte. Kein Wort wurde mehr gesprochen, und niemand wollte uns

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