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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Geraedts
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wie das neben der Eingangstür. Davor befanden sich ein Schreibtisch und ein dreibeiniger Holzschemel. Auf dem Tisch lagen neben einem ausgetrockneten Füllfederhalter unleserlich gekritzelte Notizen und ein in Leder gebundenes Buch. Janick nahm es in die Hand und pustete eine dicke Staubschicht vom Einband.
    »Im Glanz der Goldenen Sonne«, las er im Flüsterton.
    Dieser Roman ist wohl vor meiner Zeit entstanden , dachte Janick.
    Er drehte sich um und sah, dass Judith sich bereits auf einer Wolldecke niedergelassen hatte, die in der gegenüberliegenden Zimmerecke wie zum Picknick ausgebreitet war. Sie hatte sich wie ein Fötus auf ihr zusammengerollt und schien bereits eingeschlafen zu sein. In Kürze würde Janick sich zu ihr legen, doch zuvor wollte er die restliche Einrichtung in Augenschein nehmen. An der hinteren Wand des Zimmers, gegenüber der Tür, befand sich ein Regal, in dem weitere staubige Bücher eingereiht waren. Außerdem gab es dort eine kleine Holzkiste mit Angelhaken, eine Dose mit Schreibfedern, einen Stapel weißer Papierbögen sowie einige leere, unetikettierte Konservendosen. An der rechten Seite des Regals lehnte eine abgegriffene Angelrute. Vor der Längswand gegenüber dem breiten Fenster waren ein Ofen sowie eine Küchenzeile mit Spüle und zwei Herdplatten, über denen eine Abzugshaube angebracht war. Alles war verrostet und mit Dreckkrusten übersät.
    Rechts neben der Küchenzeile hing eine eingerahmte Fotografie. Sie zeigte ein junges Paar im Profil, das sich küsste. Das Bild war an einem strahlend hellen Sommertag in einer Waldlichtung aufgenommen worden; im Hintergrund ragte eine herrliche Linde zu einem wolkenlosen Himmel empor. Auf dem unteren Bildrand stand in geschwungener Handschrift: Für Kevin. In ewiger Liebe, Helen .
    Janick betrachtete das Foto lange Zeit, wollte und konnte den Blick nicht abwenden, und merkte, dass seine Augen feucht wurden.
    So viel Licht war früher in der Welt , dachte er und schluckte, um Tränen zurückzuhalten.
    Wie gern wollte er mit Judith in einer solch erhellten Welt leben, wie sehr wünschte er sich, sie an einem so strahlenden Sommertag am Stamm eines Lindenbaums zu küssen. Gedankenvoll strich er mit den Fingern über das Foto und verspürte plötzlich eine unsagbare Trauer darüber, dass er sein Leben lang nichts als Kälte und Dunkelheit kennengelernt hatte. Zwar vermochte er nach wie vor die Erinnerungen Patrick Baumgartners im Geiste zu betrachten (auch wenn sie inzwischen verblasst waren und wohl schon bald vollständig verschwunden wären), doch er war nicht Patrick Baumgartner und hatte keine der Dinge erlebt, die als geisterhafte Rückstände in seinem Gedächtnis schwebten. Dies waren nicht seine Erinnerungen … es waren die Erinnerungen eines Menschen, der schon lange verstorben war. Janick wollte selbst die Sonne auf- und untergehen sehen, wollte mit eigenen Augen einen Himmel erblicken, der so hell war, dass man ihn kaum direkt anschauen konnte, er wollte die Wärme einer sommerlichen Brise auf der Haut spüren und in Seen schwimmen, die so klar waren, dass man bis zu ihrem Grund hinabblicken konnte. Janick wollte auf weiten Feldern spazieren und auf menschenleeren Wiesen ausruhen, mit übereinandergeschlagenen Beinen und hinter dem Kopf gefalteten Händen, während die Sonne durch raschelnde Blätter blitzte und Vogelgezwitscher die Luft erfüllte. Er wollte beobachten, wie die Blätter sich im Herbst verfärbten, um im Winter abzufallen und im Frühjahr wie durch ein Wunder von Neuem hervorzukommen. Janick wollte die besonderen Augenblicke einer hellen Welt erleben und sie für immer im Herzen bewahren.
    Er schloss die Augen und stellte sich vor, das Foto zeige ihn mit Judith, als die Sonne noch schien und die Welt im Licht war.
    Aber sie scheint ja noch! , dachte er und wandte sich zum Fenster, um die orangefarbenen Stellen am Himmel zu betrachten, wo die Wolken zu dünn waren, um das Licht zu verbergen. Diese schwarze Wolkendecke, so überlegte er, unterschied sich nicht vom Wesen der Heilanstalt; es waren künstliche Fassaden, die die Kreaturen erschaffen hatten, um die Wahrheit zu verdecken und ein falsches Bild an ihre Stelle zu setzen. Doch Janick wusste jetzt, dass die Wahrheit sich nicht dauerhaft unterdrücken ließ. Auf kurz oder lang brach sie durch jede Kulisse hervor, so wie auch die Sonne immer wieder als zutraulicher Glanz durch die Wolken schimmerte. Ein Glanz, aus dem sich jederzeit Hoffnung schöpfen ließ,

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