Die Heilerin des Kaisers
erfahren, Weib.« Er packte die Heilerin nicht besonders sanft am Arm und führte sie auf in den Felsen gehauenen Stufen abwärts. Offenbar ging es in eine Höhle, verborgen mitten im Steigerwald. Aus der Art des Echos, das die Stimmen ihrer beiden Begleiter erzeugten, erahnte Griseldis, dass sie sich nun in einem unterirdischen Gang befanden, der schmal und ziemlich hoch sein musste. Rüde wurde sie tiefer in den Stollen hineingezogen.
Einige Male bogen die Männer ab und manchmal hatte sie den Eindruck, als führte sie der Weg wieder zurück zum Eingang – längst hatte sie die Orientierung verloren. Dank ihrer mit Pech getränkten Fackeln, Griseldis konnte sie riechen und hörte ihr leises Zischen, fanden sich die Burschen offensichtlich gut zurecht.
Auf einmal blieben sie jedoch stehen und einer der beiden nahm Griseldis die Augenbinde ab. Mit Furcht und Neugier zugleich sah die Heilerin sich um. Sie befand sich in einer Grotte, von deren gewölbter Decke, etwa fünfzehn Meter über ihren Köpfen, verschieden lange Tropfsteine herabhingen.
Griseldis hatte von dieser Art von Höhlen bereits gehört, aber noch nie eine solche betreten. Irgendwie erschien sie ihr im ersten Augenblick märchenhaft. Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich bald. Sie fröstelte in ihrem viel zu dünnen Gewand: Nasskalt war es hier unten. Auch die vielen, an den glatt behauenen Steinwänden angebrachten Pechfackeln vermochten die modrig feuchte Luft nicht zu erwärmen.
Dafür spendeten sie genügend Licht, um Griseldis das Ausmaß dieser offenbar als Versammlungsort und geheime Kultstätte benützten Höhle erkennen zu lassen. Sie schätzte ihren Durchmesser auf etwa einhundert Männerschritte. Dass der Ort als unterirdische Opferstätte genutzt wurde, zeigte ein großer, steinerner Altartisch. Auf ihm, wie sie mit Schrecken sah, befand sich eine riesige Schale mit dem mächtigen Haupt eines Stieres, um dessen Halsstumpf sich eine noch nicht gestockte Blutlache gebildet hatte.
Der Boden der gewaltigen unterirdischen Halle war mit viereckigen, weißen Steinplatten ausgelegt, deren Seitenlänge etwa eine Handspanne betrug. Um den Altar herum stand ein Dutzend großer Kandelaber aus Bronze, bestückt mit riesigen, dicken Wachskerzen, deren sämtliche Flammen flackerten. Der Kerzenschein erzeugte in der geheimnisvollen Grotte ein seltsam unwirkliches Licht.
KAPITEL 70
›H IER MUSS SICH doch irgendwo eine Öffnung oder ein Kamin im Gestein befinden, durch den Luft hereinströmt, welche die Kerzenflammen unruhig brennen lässt‹, überlegte Griseldis unwillkürlich. Auch im Nacken verspürte sie plötzlich den unangenehmen Luftzug.
›Womöglich gibt es einen weiteren Ausgang aus dieser Alptraumhöhle‹, dachte die Heilerin und eine gewisse Hoffnung machte sich in ihrem Herzen breit.
Im Stillen hatte sie sich vorgenommen, weiterhin keinen Widerstand zu leisten, um die Anhänger dieses ohne Zweifel verbotenen Kultes nicht unnötig gegen sich aufzubringen. Sie würde sich verstellen, allem Unsinn zustimmen und dann die nächstbeste Gelegenheit ergreifen, um heimlich zu verschwinden. Inständig hoffte sie, dass der Mauerspalt, durch den die kalte Luftströmung eindrang, groß genug wäre, um ihr das Durchschlüpfen zu gestatten.
Auf einmal erklang ein höchst eigenartiger Laut, der sie erschrocken zusammenfahren ließ. Eine Lure war es, die ein Mann in langem, weißem Gewand blies. Dieses uralte, seltene Instrument aus dem Norden Europas bestand aus einem gewundenen Bronzerohr von beinahe drei Metern Länge, dessen Schallöffnung mit einer verzierten Scheibe versehen war.
Griseldis sah noch einen weiteren Bläser, der seine Lippen dem Mundstück einer ähnlich großen Lure näherte, um jenen dumpfen, mit nichts zu vergleichenden urtümlichen Ton zu erzeugen.
Danach beobachtete sie, wie aus einem Seitengang in weiße, bodenlange Mäntel gehüllte Gestalten feierlich in die Haupthöhle einzogen. Gemessenen Schrittes gingen sie mit vor der Brust gefalteten Händen hintereinander her, die mit Kapuzen bedeckten Häupter hielten sie gesenkt. Dann stellten sie sich in einem Halbkreis um den Altar mit der makabren Opfergabe auf.
»Was soll das? Warum hat man mich hierhergebracht?«
Überlaut klang Griseldis’ Stimme in der feierlichen Stille, die nach dem Verklingen des letzten Tons der beiden Bronzeluren eingetreten war.
»Sei ruhig«, warnte einer ihrer beiden Führer sie wütend und stieß ihr grob seine Faust in die
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