Die Heilerin des Kaisers
auch zum Mithraskult.
»Wir zwingen niemanden zu etwas«, drang die Stimme des Oberpriesters ans Ohr der Heilerin. Erneut widmete sie diesem Mann, der ihr zwar entsetzliche Angst einflößte, sie aber gleichzeitig auf geheimnisvolle Weise faszinierte, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Welches Schicksal würde er über sie verhängen?
Auf seinen Wink hin brachte ein ganz junger Priester einen kleinen Becher aus durchscheinendem Alabaster herbei und reichte ihn der Heilerin.
»Trinkt, Frau Griseldis!« Woher kannte er ihren Namen? Natürlich, von Radegund!
Timotheus’ ausgestreckter Finger wies auf das Gefäß in ihrer Hand.
»Nehmt diesen Becher von uns als Dank für das Ungemach, das wir Euch bereitet haben, als wir Euch nötigten, zu uns zu kommen. Eure Weigerung, mit uns gemeinsam das Land von der gefräßigen Schlange Kirche und ihren gottlosen Priestern, samt dem König, zu befreien, bedauern wir sehr, nehmen es Euch aber nicht übel. Folgt Eurem Gewissen, wie wir dem unsrigen gehorchen.
Und nun nehmt den Inhalt dieses Bechers zu Euch. Er soll gleichzeitig Euer Willkommens-und Euer Abschiedstrunk sein.«
Die Flüssigkeit in dem Gefäß verströmte einen betörenden Duft. ›Er hat mich in Hypnose versetzt‹, dachte die Heilerin entsetzt. ›Das ist noch keinem gelungen. Ich vermag mich nicht zu wehren. Mein Durst und mein Verlangen nach diesem Becher sind einfach zu groß. Ich muss ihn leeren – auch wenn ich durch das enthaltene Gift sterben werde.‹
Die Edle von Tannhofen hegte keinen Zweifel, dass die so verführerisch duftende Mischung in dem kleinen Alabastergefäß vergiftet war. ›Umso schneller ist alles vorbei‹, hoffte sie. Wie in Trance setzte sie es an ihre Lippen und leerte es gierig. Sein Inhalt schmeckte köstlich. Fest schlossen sich ihre Finger um den kleinen Becher…
Unmittelbar darauf erfasste sie ein leichter, dann immer stärker werdender Schwindel, so dass sie sich an einem ihrer Begleiter festhalten musste, um nicht niederzusinken.
Die Grotte begann, sich erst langsam, dann zunehmend schneller um sie zu drehen; so dass der Schein der Pechfackeln an den vor Nässe glitzernden Wänden schließlich wie ein Ring aus Feuer aussah. Die Priester hatten eine Litanei angestimmt, in einer Sprache, die Griseldis unbekannt war. Feierlich umkreisten die Weißgekleideten dabei den Altartisch, in dessen Mitte das Haupt des geopferten Stieres mit gebrochenen Augen ruhte.
Dieser Kopf schien auf einmal größer zu werden; Blut begann aus seinen Augen zu strömen, aus dem Maul, der Halswunde und den Nüstern. Griseldis ekelte sich entsetzlich, als der dunkelrote Lebenssaft des Opfertieres über den Rand der Schüssel rann, über den Altar und auf die hellen Bodenfliesen.
Erschrocken schrie sie auf, als sie sah, dass der breite, dampfende Blutstrom in ihre Richtung lief. Gleich würde er ihre Füße erreicht haben und ihre Reitstiefel mit seiner beinahe schwarzen Klebrigkeit besudeln. Sie vermochte sich jedoch nicht von der Stelle zu rühren.
›Nur ein einziger Schritt zur Seite und das Blut des Stieres berührt mich nicht‹, dachte sie noch. Aber sie war außerstande, auch nur einen Fuß zu heben; auf einmal stand sie in einer Blutlache. Als die widerliche Flüssigkeit durch das Leder hindurch ihre Zehen nässte, verlor sie das Bewusstsein…
Als die Heilerin wieder zu Bewusstsein kam, befand sie sich an derselben Stelle, an der Überfall und Entführung stattgefunden hatten. Wie lange sie ohnmächtig – den Kopf im Schoß ihrer Magd Radegund geborgen – auf der Erde gelegen hatte, hätte sie nicht zu sagen vermocht.
Als sie die Augen aufgeschlagen hatte, fiel ihr Blick zuerst auf das erleichterte Gesicht Radegunds.
»Was habt Ihr mir für Sorgen gemacht, edle Frau!«, rief die Magd. »Ich fürchtete schon, es sei etwas Ernstes. Aber wie es scheint, war es nur ein kleiner Schwächeanfall, Herrin. Ihr solltet mehr Nahrung zu Euch nehmen, vor allem, wenn Ihr Euch auf einen längeren Ritt begebt.«
Radegunds Stimme klang aufrichtig, aber Griseldis glaubte dennoch einen falschen Zungenschlag wahrzunehmen. Blitzartig waren ihr Bruchteile des kürzlich Vorgefallenen wieder in den Sinn gekommen: Hatte man ihr tatsächlich zumuten wollen, ihren geliebten und verehrten König umzubringen?
Sie zermarterte sich das Gehirn, um noch mehr über das zu erfahren, was wirklich mit ihr geschehen war, aber etwas warnte sie davor, Radegund darüber zu befragen.
Stückweise kehrte ihre Erinnerung
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