Die Heilerin des Kaisers
Seite. »Du hast dich still zu verhalten und die heilige Handlung nicht zu stören, Weib«, fügte er leise, aber grimmig hinzu. Die rohe Art der Behandlung erboste die Heilerin und alle ihre Vorsätze waren vergessen.
»Ich bin gegen meinen Willen hier«, rief sie unbedacht aus. »Für mich ist es keineswegs eine heilige Handlung, an der ich teilzunehmen wünsche. Lasst mich sofort gehen«, fügte sie zornig hinzu. Ehe ihr Begleiter erneut handgreiflich werden konnte, gebot ihm eine der weiß gekleideten Gestalten Einhalt.
»Halt, Bruder«, sagte eine weiche, dunkle Stimme, »die Dame weiß offenbar nicht, weshalb wir sie zu uns gebracht haben. Ist es so, Herrin?«, wandte der Mann sich fragend an Griseldis. Die schalt sich im Stillen eine Närrin, da sie ohne Not auf sich aufmerksam gemacht und somit ihre Möglichkeiten zur Flucht empfindlich geschmälert hatte.
Aber sei’s drum, der Schaden war bereits angerichtet.
»Woher sollte ich Euch kennen, Herr? Ich bin christlich getauft und mit abgehauenen Rinderköpfen auf dem Altar habe ich bisher nichts zu tun gehabt. Und die fremdartigen Symbole, die ich hier an den Wänden finde, verstehe ich auch nicht«, gab sie tapfer zur Antwort.
Dabei deutete sie auf Kreise, Spiralen und Wellenlinien, die mit großer Sorgfalt in die Kalkwände der Höhle eingeritzt waren. Dazwischen befanden sich in unregelmäßigen Abständen Sonnen und Monde sowie Tier-und Menschenfiguren, angedeutet nur durch Striche, wie etwa ein Kind sie zeichnen würde.
»Weshalb wurde ich mit List und Gewalt hierherverschleppt? Die Art und Weise meiner Entführung war zudem äußerst roh. Im Übrigen, wo ist Radegund, meine Magd?«
Aufrecht und keineswegs eingeschüchtert stand die Heilerin vor dem großen Mann in der weißen Kutte. Die Kapuze hatte er mittlerweile zurückgeschlagen und Griseldis sah das kahl geschorene Haupt eines etwa fünfzigjährigen Priesters, der im Schein der zahlreichen Fackeln große Autorität ausstrahlte. Tief liegende, schwarze Augen in einem schmalen Gesicht ruhten nachdenklich auf ihr. Es war ihr nicht möglich, auch nur im Geringsten zu erraten, woran dieser Mann dachte; dieser Umstand verunsicherte die Heilerin sehr.
»Dass man Euch nicht mit dem nötigen Respekt behandelt hat, bedauere ich sehr, Herrin. Wir hatten Anlass zu glauben, Ihr hättet Interesse an unserer ›Vereinigung der wahrhaft Gläubigen‹«, sagte er nach einer Weile mit seiner samtigen, einschmeichelnden Stimme.
Griseldis musterte ihn verblüfft.
»Wie kamt Ihr auf diesen merkwürdigen Gedanken, Herr?«, wollte sie temperamentvoll wissen. »Womit habe ich Euch Anlass gegeben, derlei zu vermuten? Ich bin Christin und gedenke es auch zu bleiben.«
Fest blickte sie dabei ihrem Gegenüber in die Augen; wobei sie allerdings ihren Kopf in den Nacken legen musste, denn der Priester war ein hochgewachsener Mann. Griseldis merkte ihm keinerlei Regung an. Falls ihn ihre Zurückweisung erzürnt oder enttäuscht hatte, ließ er nichts davon nach außen dringen.
Erneut bemächtigte sich der einsamen Frau Furcht. Auf ihre Frage nach Radegund war er nicht eingegangen. Lebte diese überhaupt noch?
»Verzeiht meine Unhöflichkeit, Herrin, und gestattet mir, mich Euch endlich vorzustellen: Mein Name lautet Timotheus und ich bin der Oberste Priester unserer heiligen Gemeinde. Ihr müsst keine Angst vor uns haben. Ich bedaure, dass der Stierkopf Euch offenbar Furcht eingeflößt hat. Auch um Eure Magd müsst Ihr Euch nicht sorgen – es geht ihr gut.«
Griseldis atmete im Stillen auf. Aber konnte sie ihm trauen? Wer war dieser Timotheus?
»Wir hatten durchaus Grund zu der Annahme, dass Ihr unserer Religion zumindest wohlwollend gegenübersteht, Herrin.«
Seine Stimme klang jetzt um einiges kälter als zuvor. Er war sich inzwischen sicher, mit ihr einen bedauerlichen Missgriff getan zu haben.
»Aber wieso, Herr?« Griseldis war aufs Neue verwirrt. »Ich achte die Gebote unseres HERRN, JESUS CHRISTUS, bin eine treue Tochter der heiligen Kirche, versäume sonntags weder Messe noch Predigt und empfange regelmäßig das Sakrament der Buße sowie das heilige Abendmahl…«
»Ja, ja«, unterbrach der heidnische Priester sie jetzt ungeduldig. »Das ist uns alles wohlbekannt! Aber darüber hinaus seid Ihr eine weise Frau mit heilender Kraft in den Händen und einer seherischen Begabung und dazu ein Abkömmling unserer guten Tochter Dietlinde, Eheweib des Frowein, die sich vor Jahren von der Kirche abgewandt, aber
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