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Die Heilerin des Kaisers

Die Heilerin des Kaisers

Titel: Die Heilerin des Kaisers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karla Weigand
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meisten tat es Griseldis weh, dass die Mutter Gertrud, ihr jüngstes Kind, kaum noch beachtete. Sie glaubte offenbar, das Mädchen sei ihre Nichte, das Kind einer jüngeren Schwester Froweins, und benutzte hartnäckig den Namen Agatha, wenn sie denn einmal das Wort an das Mädchen richtete.
    Und noch etwas bereitete Griseldis und Frowein zunehmend Sorgen: Dietlinde wandte sich immer mehr ab vom Christentum. Sie mied die Dorfkirche und betete, erst heimlich, dann immer offener, zu den alten Heidengöttern.
    Im späten Frühjahr 1001 war Griseldis der Mutter einmal nachts gefolgt, als diese sich leise aus dem Bett von der Seite des Vaters weggestohlen und das Haus mit einem Henkelkorb über dem Arm verlassen hatte.
    Beunruhigt hatte die Tochter die Fährte Richtung Rabenwald aufgenommen, der sich eine gute Meile vom Dorf entfernt, hinter den Dinkelfeldern der Gemeinde von Tannhofen, erstreckte.
    Mitten im Wald entsprang aus einem einst dem germanischen Gott Wotan geweihten Felsen, der seit der Christianisierung in »Ägidiusstein« umbenannt worden war, eine Quelle. Diese hatte man früher der Göttin Freija gewidmet; inzwischen hieß sie längst »Marienborn«.
    Aus den Erzählungen Muhme Bertradas wusste Griseldis, dass sich, vor langer Zeit und ehe die Missionare gekommen waren, in den Vollmondnächten die Frauen und Mädchen der Umgebung hier versammelt hatten, um mit Gebeten, Opfergaben und Tänzen diese heidnische Göttin zu ehren.
    ›Was mag die Mutter nur dort wollen?‹, fragte sich Griseldis ängstlich.
    Der jungen Heilerin wurde es zunehmend bang, je länger sie Dietlinde in jener Nacht hinterherschlich. Mit traumwandlerischer Sicherheit hastete die ältere Frau die mondhellen Pfade entlang – nicht zum ersten Male, wie ihre Tochter vermutete.
    Wenn Dietlinde sich nur ein einziges Mal umgedreht hätte, hätte sie ihre Verfolgerin unweigerlich entdeckt; aber sie tat nichts dergleichen.
    ›Mutter scheint wie magisch angezogen von ihrem Ziel. Ja, sie geht tatsächlich zum Marienborn! Aber, weshalb nur, in aller Heimlichkeit und noch dazu mitten in der Nacht?‹
    Das Mädchen ahnte, dass sie nun Zeugin eines Geschehens werden sollte, das man in einem so lange schon zum Christentum bekehrten Land für längst überwunden und vergessen halten musste. Um nicht doch noch entdeckt zu werden, verbarg Griseldis sich schließlich hinter dem dicken Stamm einer Buche, wenige Meter von der sprudelnden Quelle entfernt.
    Griseldis’ Herz pochte laut und das Blut rauschte in ihren Ohren – beinahe fürchtete sie, Dietlinde würde es hören. Aber das murmelnde Brünnlein übertönte selbst den spitzen Todesschrei einer Haselmaus, als diese von einer hungrigen Eule gegriffen wurde.
    Dietlinde war niedergekniet an dem kleinen, vom Wasser glatt geschliffenen Steinbecken und hatte ihre Hände in das kühle Nass hineingetaucht, um sich das Gesicht zu erfrischen. Danach trank sie von der als heilkräftig angesehenen Quelle, indem sie mit der hohlen Hand das Wasser schöpfte. Anschließend faltete sie die Hände zum Gebet.
    Griseldis wollte bereits befreit aufatmen, zeigte Dietlindes Verhalten doch nichts Verbotenes, wenn auch der Zeitpunkt ihrer Verehrung der Jungfrau Maria mitten in der Nacht etwas befremdlich erschien: Oberhalb der Quelle thronte in einer mit Moos bewachsenen Höhlung des Ägidiussteins ein beinahe lebensgroßes, aus Holz geschnitztes Standbild der Gottesmutter.
    Plötzlich begann Dietlinde sich hin und her zu wiegen, wobei sie die Arme zum Himmel erhob und Unverständliches murmelte. Nach einer Weile entnahm sie dem Flechtkorb einen Blumenstrauß, platzierte diesen aber keineswegs in dem dafür vorgesehenen Gefäß unterhalb der Marienstatue, sondern verteilte die Blüten rings um das steinerne Becken.
    In dieses Bassin ergoss sich sprudelnd das Quellwasser, ehe es sich, als dünnes Rinnsal auf dem Waldboden mäandernd, durch den Rabenwald schlängelte. Frowein hatte einst seinen Kindern erzählt, dass das Wasser schließlich zu einem respektablen Bach angewachsen zur Donau strebte.
    Griseldis stockte der Atem und eisige Schauer liefen über ihren Rücken, als Dietlinde nun anfing, sich trotz der bitteren Kälte, die Mitte Mai des Nachts noch herrschte, ihrer Kleidung zu entledigen. Dann begann sie einen eigenwilligen Tanz und deklamierte dazu in einer alten, Griseldis unbekannten Sprache Verse in einem seltsamen Singsang.
    Die junge Frau packte das blanke Entsetzen. Noch niemals zuvor hatte Griseldis diese

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