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Die Heilerin des Sultans

Die Heilerin des Sultans

Titel: Die Heilerin des Sultans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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Ungleichgewicht der Säfte?«
Sapphira lächelte, da die Lektüre der Methodi medendi – der Methoden des Heilens – des griechischen Arztes ihr
besondere Freude bereitet hatte. Noch niemals zuvor hatte sie die
Zusammenhänge des menschlichen Körpers so klar und einfach
verständlich dargelegt gesehen. »Galen sagt«, hub
sie an, »dass es die Aufgabe des Heilers ist, dieses
Ungleichgewicht durch Arzneien, eine strenge Diät oder
chirurgische Maßnahmen wieder aufzuheben. Wenn ein Mensch
Schmerzen leidet«, fuhr sie fort, »dann bedeutet das,
dass an bestimmten Stellen im Körper ein Missverhältnis der
Säfte vorherrscht.« »Sehr gut«, ermunterte die Tabibe die junge Frau. »Und wie würdest du einen
Choleriker heilen?« Das war eine schwere Frage, denn so weit
war Sapphira mit ihrer Lektüre noch nicht gekommen. Da sie die
Ärztin jedoch nicht enttäuschen wollte, leitete sie sich
eine Antwort her, die dem Sinn des bisher Gelesenen entsprach. »Da
der Choleriker einen Überschuss an gelber Galle hat«,
begann sie grübelnd, »sollte er keine Lebensmittel zu sich
nehmen, die als heiß und trocken gelten. Er sollte seine
Speisen also nicht zu stark würzen.« Der gespannte
Ausdruck, mit dem die Tabibe sie musterte, ließ sie
etwas selbstbewusster fortfahren: »Er sollte kalte und feuchte
Nahrung wie Fisch wählen oder seine Nahrung in Wasser kochen.«
Sie blinzelte konzentriert. »Salate sind besser für ihn
als Wein und Rindfleisch. Zudem sollte er all seine Speisen klein
hacken und die Zutaten gut durchmischen.« Da ihr Ehrgeiz es ihr
gebot, grub sie noch tiefer und entsann sich an etwas, das am Rande
einer Seite niedergekritzelt gewesen war. »Bitteres tut ihm
ebenfalls nicht gut. Sein Speiseplan sollte viel Süßes und
Salziges enthalten.«
        »Ich
bin sehr zufrieden mit dir«, lobte die Ärztin, nahm
Sapphira den dicken Folianten ab, den diese bis vor Kurzem studiert
hatte, und erhob sich von der hölzernen Bank. Augenblicklich tat
ihre Schülerin es ihr gleich und folgte ihr zu einem im hinteren
Teil der Apotheke angebrachten Schränkchen. Was sich darin wohl
verbarg? Neugierig stellte sie sich auf die Zehenspitzen und
versuchte, der Tabibe über
die Schulter zu sehen. Wie jedes Mal, wenn sie nach ihrem Unterricht
in den Gemächern der Valide ins Hospital kam, war auch
heute das Bedauern, das sie beim Aufbruch empfunden hatte, schon bald
der Begeisterung für all das hier verborgene Wissen gewichen.
Anders als der Hekim, von
dem der Kizlar Agha sie
gekauft hatte, schien die Tabibe tatsächlich mehr mit ihr
vorzuhaben als das Zubereiten einfacher Tränke und das Behandeln
von Fieber und Hautausschlägen. Sie schob sich etwas näher
an die Ärztin heran und beobachtete, wie diese einige
kolbenförmige Glasgefäße sortierte. Nahezu andächtig
glitten die Finger der Älteren über die Oberflächen,
tasteten tiefer und wanderten wählerisch von links nach rechts.
Da sich außer den Kolben allerdings nichts in dem Schrank
befand, verlor Sapphira nach einiger Zeit das Interesse und begann,
auf den Fußballen auf und ab zu wippen. Während die Tabibe mit Bedacht einige
Behältnisse mit einem weichen Tuch polierte, zurückstellte
und nach anderen griff, versetzte der Anblick des kunstvoll
geblasenen Glases sie unvermittelt in ihre Kindheit in Smyrna zurück.
Ihr erster Herr, ein uralter Schreiber mit einem lustigen
Ziegenbärtchen, hatte ihr manchmal kleine blaue, gelbe oder
braune Glasperlen geschenkt, mit denen sie überglücklich
gespielt hatte. Warme Wehmut erfüllte ihr Herz. Er war ein guter
Herr gewesen, der ihr bereits im Alter von fünf Jahren Lesen und
Schreiben beigebracht hatte. Die Gestalt der Tabibe verschwamm vor ihren Augen,
als sie versuchte, sich die Zeit vor dem Schreiber ins Gedächtnis zu rufen. Doch wie gewöhnlich
tauchte nichts aus dem Nebel der Vergangenheit auf als das vage Bild
einer gesichtslosen Frau, die sie manchmal auch in ihren Träumen
besuchte. Sie presste die Lider aufeinander, um den Nebel zu
vertreiben und die Züge der Frau zu erkennen. Aber genau wie
jedes Mal nach dem Aufwachen gelang es ihr nicht, mehr als ein
bleiches Oval auszumachen; und es blieb nichts zurück außer
einem Gefühl der Sehnsucht gemischt mit dem sofort verblassenden
Eindruck vollkommener Geborgenheit. Sie seufzte leise.
        Ehe
ihre Gedanken weiter schweifen konnten, wandte die Ärztin sich
zu ihr um und die Aufmerksamkeit des Mädchens kehrte ins Hier
und Jetzt zurück. »Nimm das«, sagte

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