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Die Heilerin des Sultans

Die Heilerin des Sultans

Titel: Die Heilerin des Sultans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Stolzenburg
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die schlanke
Hospitalmeisterin beinahe feierlich und reichte Sapphira einen der
durchsichtigen Kolben. »Das ist eine Matula für die Harnschau.«
Als sich zwei Falten in Sapphiras Stirn gruben, belehrte sie das
Mädchen lächelnd: »Die Harnschau ist die wichtigste
Methode der Diagnose. Alles, was den menschlichen Körper
betrifft, ist im Harnglas wie in einem Spiegel zu sehen.« Damit
gab sie ihrer Schülerin zu verstehen, das Arzneilager zu
verlassen und schritt voran in den größten Raum des Darüssifas ,
in dem Sapphira vor beinahe einer Woche der alten Amme des Sultans
die Hand gehalten hatte. Wie schnell doch die Zeit vergangen war!,
dachte sie, während sie der Tabibe folgte. Wie von ihr
vorhergesehen, war die Kranke kurz nach ihrem Besuch gestorben –
und ihr Lager von einer neuen Patientin belegt worden. Wann hatte sie
aufgehört, die Tage zu zählen?, fragte sie sich. Nachdem
ihr anfangs jede einzelne Minute, die sie von Bayezid getrennt war,
vorgekommen war wie eine Ewigkeit an Ewigkeiten, tröpfelten die
Tage inzwischen dahin wie zähflüssiger Honig. Beinahe als
beschleunige sich die Zeit mit jeder Minute, die sie seiner Gegenwart
beraubt war. Aber das konnte nicht stimmen! Sie zwang ihren
Herzschlag, sich zu beruhigen, als seine Ehrfurcht einflößende
Gestalt in aller Lebendigkeit vor ihr auftauchte – so wie sie
vor drei Tagen in den Gemächern der Valide erschienen war. Ein Prickeln
kroch ihren Rücken hinauf, als sie sich in den Moment
zurückversetzte. Einen einzigen glückstaumelnden Augenblick
hatte sie gehofft, dass er es sich anders überlegt hatte und
gekommen war, um sie abzuholen. Doch bereits nach drei Schritten des
mächtigen Sultans war dieser Traum zerplatzt wie eine
Seifenblase. Ohne sie oder eines der anderen demütig
niedergesunkenen Mädchen eines Blickes zu würdigen, war er
auf seine Mutter zugerauscht und hatte diese in eine Kammer nebenan
beordert. Und dann war er verschwunden – verschwunden, ohne
dass Sapphira ihn noch einmal zu Gesicht bekommen hätte. Bevor
sie sich weiter in ihrer Sehnsucht verlieren konnte, machte die Tabibe abrupt
vor einer Bettstatt halt. »Nimm eine Probe von dieser
Patientin.«
        Sie
deutete auf ein junges Mädchen, dessen Augen fiebrig glänzten,
und lenkte ihre eigene Aufmerksamkeit auf eine ältere, heftig
hustende Frau. Etwas ratlos verharrte Sapphira einige Momente lang
vor dem Lager der Kranken, ehe sie sich neben ihr auf der Matratze
niederließ und die Decke zurückschlug. Alle anderen
Überlegungen traten in den Hintergrund, als sie den
geschwollenen Bauch und die zusammengepressten Oberschenkel des
Mädchens sah. Ein Schweißfilm bedeckte ihr aschfahles
Gesicht und die eigentlich dunkel getönte Haut vermittelte den
Anschein, mit Kreidestaub überzogen zu sein. Erwartete die
Ärztin, dass sie an Ort und Stelle die Harnprobe nahm?
Verstohlen verfolgte sie, wie die Hospitalmeisterin eine Bettpfanne
unter die Alte schob und tat es ihr gleich, sobald sie das Gefäß
am Fußende des Lagers entdeckt hatte. Plätschernd rann der
Urin der Kranken in die Schale, und kaum hatte diese ihre Notdurft
verrichtet, fiel sie zurück in einen lethargischen Zustand.
Wenig begeistert tauchte Sapphira die Matula in die warme Flüssigkeit
und wischte das Äußere mit einem Stofffetzen ab. Und das
sollte ein Spiegel des Körpers sein? Zweifelnd betrachtete sie
die fahlgrüne, trübe Flüssigkeit, die ihr dicker
vorkam als normal. Kleine, blattförmige Flocken tanzten darin
und schlugen sich schon bald am Boden des Harnglases nieder. Wider
Willen fasziniert, beobachtete sie, wie sich der Ton schon nach
wenigen Augenblicken veränderte und ins Dunklere spielte. Woran,
um alles in der Welt, litt diese junge Frau?
        Bevor
sie sich in Mutmaßungen ergehen konnte, trat die Ärztin an
ihre Seite, nahm ihr die a Matula ab und hob sie an die Augen.
Blinzend schüttelte sie den Kolben vor einer Kerzenflamme hin
und her, drehte und wendete ihn, bis sie ihn schließlich
murmelnd auf einem Tischchen abstellte. Ihre eigene Harnprobe hatte
die Farbe reifer Brombeeren, und ein Blick auf die hustende Kranke
genügte, um die Ernsthaftigkeit ihres Zustandes deutlich zu
machen. Nachdem die Tabibe auch diese Flüssigkeit
eingehend untersucht hatte, begab sie sich zurück zu der alten
Frau, rollte ihr Nachtgewand über die Hüfte und begann,
ihren Unterleib abzutasten. Als die Kranke ein gequältes Stöhnen
von sich gab, nickte sie, sprach einige Worte mit der

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