Die Heilerin - Roman
gegangen war.
»Bleib weg von mir!«, sagte Lanelle derweil, nicht laut genug, die Wachen zu übertönen, aber laut genug, um Kiones Aufmerksamkeit zu erregen. Er drehte sich um.
»Du lebst!«, keuchte er und sah nicht minder geschockt aus als ich.
Lanelle machte kehrt und rannte den Gang hinunter, geradeweg in Richtung...
Bei allen Heiligen! Dieser Gang führte in den Flügel, in dem der Erhabene residierte. Vermutlich war sie auf dem Weg zu einem Ältesten, um ihren Posten zu retten und uns noch einmal zu verraten.
Ich raste hinter ihr her. Kione rief ihren Namen und folgte uns. Seine Stiefel prallten lauter auf den Boden als meine Sandalen. Lanelle bog vor uns um eine Ecke.
»Lanelle!«, schrie er so heiser, dass es beinahe einem Flüstern glich. »Wo willst du hin? Wir müssen hier raus.«
Er begriff immer noch nicht, was sie getan haben musste. Ich stellte mir vor, wie sie auf ihrer Pritsche lag und der Erhabene sich über sie beugte und Antworten verlangte. Ich bezweifelte, dass sie auch nur einen Moment gezögert hatte, ihm alles zu erzählen. O ihr Heiligen, ich wette, sie hatte ihm sogar von sich aus Informationen über Tali und mich angeboten, um sich eine Heilbehandlung zu erkaufen.
»Warum bleibt sie nicht stehen?«, fragte Kione.
Ich lief weiter, vorbei an den Fenstern, die zur Stadt hinausführten. Über dem Marktplatz stand eine Rauchsäule. Ich konnte keine blauen Uniformen in der Menge dort unten ausmachen, aber ich ging davon aus, dass sich Gildegrün und Baseeriblau ihren Weg durch die Menge säbelten, wie sie es auch bei jedem anderen Aufruhr getan hatten.
Kione zog an mir vorbei, und ich folgte ihm und Lanelle in einen rechteckigen Raum. Hier war es beinahe so still wie in einem Tempel. Auf dem Boden lagen dicke grüne Teppiche, und in der gegenüber liegenden Wand führte eine Doppeltür zu einem weiteren Raum. Eingerahmt von Statuen standen gepolsterte Bänke zu beiden Seiten der Tür. Kione hatte den Raum halb durchquert, aber Lanelle näherte sich bereits der Tür auf der anderen Seite.
Meine Schritte stockten. Ich kannte diesen Saal, auch wenn Jahre vergangen waren, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Wir befanden uns vor dem Amtszimmer des Erhabenen.
Plötzlich tauchte aus einer Nische ein Wachmann auf und packte Lanelle. Sie schrie auf und versuchte, sich loszureißen.
»Lass sie los!«, brüllte Kione und stürzte sich auf den Wachmann. Ehe er ihn erreicht hatte, tauchte ein anderer Wachmann auf und stieß ihn zu Boden.
»Lass sie los! Ich arbeite auch hier«, sagte Kione und versuchte erfolglos, sich zu befreien.
»Nicht in diesem Flügel!«
Ich machte kehrt, um Fersengeld zu geben, ehe die Wachen auf mich aufmerksam werden konnten, als mich eine Wand aus Grün rammte. Vielleicht war es auch umgekehrt. Jedenfalls stürzte ich rücklings zu Boden und landete auf meinem Hinterteil.
»Eine Menge los«, bemerkte der Wachmann, der drohend direkt über mir aufragte.
»Das gibt sich wieder«, sagte ein anderer. »Wart's ab.«
Der Wachmann zerrte mich mit einer Leichtigkeit auf die Füße, als hätte er nur ein schlafendes Huhn aufgesammelt. Ich trat ihm gegen das Schienbein und geriet vor Schmerz ins Stolpern.
»Au!«, schrie ich auf. Meine Zehen brannten vor Schmerz.
Er lachte.
Mit Tränen in den Augen hob ich den Fuß und rieb mir die geprellten Zehen. Erst jetzt erkannte ich die silbernen Beinschienen an seinen Unterschenkeln. Den Schmerz geprellter Zehen auf ihn zu übertragen, würde ihn vermutlich kaum kümmern und gewiss nicht reichen, ihn lange genug abzulenken, dass ich die Flucht ergreifen konnte.
Wenigstens hatten sie auch Lanelle gefangen.
Lanelle schlug mit der flachen Hand nach dem Wachmann, der sie am Arm festhielt, ohne die geringste Wirkung zu erzielen. »Ich muss mit dem Erhabenen sprechen«, sagte sie.
Ein Flügel der Doppeltür wurde geöffnet, und ein Mann in einem Berg von Seide trat heraus. Alle Kraft wich aus meinen Knien, und nur der feste Griff des Wachmanns an meinem Arm hielt mich noch auf den Beinen.
»Was ist das hier für ein Lärm?«, fragte Zertanik mit ärgerlicher Miene. Die einem Lächeln wich, als er aufblickte und mich entdeckte. »Ah, Merlaina, wie schön, dich wiederzusehen.«
»Herr, Herr!« Lanelle wedelte aufgeregt mit der Hand, um Zertanik auf sich aufmerksam zu machen. »Das ist das Mädchen, von dem ich dem Ältesten Vinnot erzählt habe. Sag den Wachen, sie sollen mich loslassen.«
Kione hörte auf zu zappeln.
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