Die Heilerin von Lübeck
konnten! Danach haben sie dem Kaak den Fellkragen umgehängt.«
»Du warst dabei?«
»Nein. Ich habe den Fellkragen genäht, und Nicolaus hat mir erzählt, wie es ausgegangen ist. Allerdings muss es in der Nacht einen Zwischenfall gegeben haben, denn er hatte es anfänglich sehr eilig, aus Lübeck zu verschwinden. Damit hatte es in dem Augenblick ein Ende, als er entdeckte, dass er den Knecht Heinrich zum Täter stempeln konnte. Wisst Ihr, was da los war?«
»Ich glaube. Die Frau hat geschrien und damit die Nachtwächter alarmiert. Vermutlich hatte Nicolaus Angst, sie könnten hinter ihm her sein.«
Taleke holte tief Luft. »Ja. Aber warum hat die Frau eine Lüge gestanden? Der Mond schien hell in dieser Nacht, sie kann Ratsherrensöhne doch nicht mit Bettlern verwechselt haben.«
»Das ist leicht zu erraten. Damit ihre Kinder und ihr Mann mit dem Leben davonkommen. Hätte sie die Söhne von Ratsherren beschuldigt, wäre die ganze Familie hingerichtet worden.«
»Das habe ich nicht gewusst«, rief Taleke verzweifelt.
»Nein, woher solltest du?«
»Ja, aber ich muss blind gewesen sein! Nicolaus hat Heinrich gewissenlos in den Tod getrieben, und ich habe mir das alles angesehen und mich nur gewundert. Mehr wusste ich damals dazu nicht zu sagen …«
»Ich kenne ihn von Kindesbeinen an und habe es nicht fertiggebracht, Einfluss auf ihn zu nehmen, Taleke. Also gräme dich nicht, du kannst ganz bestimmt nichts dafür und hättest nichts ändern können.«
»Es macht mir trotzdem Sorgen, wie häufig man sich aus Dummheit untätig verhält, selbst wenn das Unrecht gerade vor den eigenen Augen geschieht. Warum ist das so, Volrad?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, weil man auf die gute Erklärung hofft und sich weigert, die schlechte in Betracht zu ziehen.«
»Kann sein. Ich bin müde, Volrad, ich muss gehen. Bei Tage behandele ich und koche …« Taleke verstummte.
»Bei wem?«
Aber Taleke war bereits wieder hellwach. Nein, sie war nicht bereit, ihm zu sagen, wo sie sich aufhielt. Auch nicht, sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihn plötzlich mit dem Vornamen ansprach und duzte, was sich nicht gehörte und sie bisher vermieden hatte. »Morgen Nacht bin ich wieder hier. Bei Tage musst du besonders auf Tideke aufpassen. Horche auf seinen Husten und stütze ihn hoch, wenn er sich damit quält.«
In der nächsten Nacht ging es Tideke wie erwartet schlechter. Wittenborch und Taleke, die beide bei Tage einige Stunden geschlafen hatten, nahmen sich des Kranken hellwach an. Zwischen den Waschungen war hinreichend Zeit für den Austausch der Neuigkeiten.
Taleke beschäftigte sich weiterhin in Gedanken mit dem Beginn von Tidekes Blatternerkrankung. Es war seltsam, aber sie fand im Nachhinein, dass er seit ihrem Besuch bei Nese nicht mehr er selbst gewesen war. Und dann waren Tag für Tag mehr ungewöhnliche Züge bei ihm aufgetaucht, vor allem Lustlosigkeit, die sich bis zur ständigen Müdigkeit gesteigert hatte. Konnte die Nachtkälte etwa Pocken erzeugen? Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geschworen, dass Tideke an Neses Bett gestanden haben musste.
Dann fiel ihr etwas ein. Tideke war zwar nicht im Haus gewesen, aber sie selbst hatte ihm eine der warmen Wolldecken aus dem Haus gebracht. Als wäre das Haus zu ihm gekommen. Butter, Wolldecken und Nachtluft, die Blattern erzeugten? Es war und blieb ein Rätsel.
»Du bist so still«, bemerkte Wittenborch. »Haben wir außer unseren vielen Sorgen noch weitere?«
»Nein. Die Blattern reichen völlig aus, um einen Menschen zu beschäftigen.«
»Zweifellos. Mich auch. Aber im Gegensatz zu dir bin ich misstrauisch wegen ihres Auftretens in deiner Nähe geworden. Weißt du, wenn einem Fischer immer wieder die Netze zerrissen werden, legt er sich, sofern er seinen Verstand beisammen hat, auf die Lauer, um festzustellen, ob er es mit einem Fischotter zu tun hat. Vor noch nicht langer Zeit hätte man behauptet, dass jemand den Mann mit einem Zauber belegt hat. Heutzutage weiß man es besser.«
»Du willst damit sagen …«
»… dass ich nicht an Schadenszauber glaube, und schon gar nicht daran, dass du jemanden erst heilst und ihn dann mit Blattern strafst. Auch früher hätte niemand den Fischer beschuldigt, seine eigenen Netze zu zerreißen. Nein, es muss eine handfeste Ursache dafür geben, dass die Blattern ausgerechnet bei Menschen auftreten, die du geheilt hast, jawohl.«
»Was sollte das denn sein?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich
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