Die Heilerin von Lübeck
dem Weg. Dabei war es eigentlich schon zu kalt für Wespen. Aber irgendein Tier hat mich in der Menge der Hausfrauen an der Butterbude gestochen.«
Taleke hielt den Atem an. »Gestochen?«, fragte sie dann unverfänglich.
»Ja!«, bestätigte Hermen nachdrücklich. »Es tat ordentlich weh, aber später war die Stelle nur etwas rot und schwoll nicht an. Vielleicht war es keine Wespe, sondern ein fremdländischer Floh. Es waren immer noch Pilger auf dem Heimweg nach Norden.«
Was Taleke kaum zu denken gewagt hatte – würde es sich tatsächlich als Lösung des Rätsels herausstellen? Die römische Peststecherei als Vorbild für die Blatternstecherei in Lübeck? Wenn das stimmte, wusste sie, wer dahintersteckte.
Taleke räusperte sich, aber ihr versagte die Stimme, als ihr aufging, dass die Konsequenzen ja weit über die Tatsache hinausgingen, dass es einen bestimmten Täter gab. Insbesondere der Kirche würden sie überhaupt nicht gefallen. Denn dann war, wie schon im Morgenland, auch im Abendland nicht der Herr im Himmel derjenige, der die Sünder mit Krankheiten bestrafte, und es handelte sich auch nicht um Zauberei. Dann war der ganze Blatternspuk genauso einfach zu erklären wie der Raub von Fischen aus Netzen durch einen Fischotter. »Es ist gut«, hauchte Taleke und musste ein triumphierendes Lächeln mühsam unterdrücken. »Das wollte ich wissen.«
Kapitel 27
Eine Woche später ging es Tideke beträchtlich besser. Wie Razes jedem Arzt ans Herz legte, hatte Taleke sich den Augen, den Ohren und den Nasenlöchern des Kranken besonders gewidmet, und sie hatte darauf geachtet, dass seine Kehle und die Atemwege frei gehalten wurden. Gegen das unbändige Kratzbedürfnis hatte Wittenborch Tidekes Hände unnachgiebig in Schiffswerg eingepackt. Und damit gedroht, sie am Dachbalken festzubinden.
Ganz allmählich kam auch sein Hunger zurück. »Vier Eier nur?«, nörgelte Wittenborch grinsend. »Du beabsichtigst doch nicht, vor unseren Augen zu verhungern?«
»Nein, Schiffer«, krächzte Tideke, »aber mein Inneres hat sich so an karge Zeiten gewöhnt, dass es noch einiger Überredung bedarf, ihm gewöhnliche Mengen vorzusetzen.«
»Na ja, wir müssen dich eben anfüttern«, gab Wittenborch nach. »Und du, Taleke?«
»Nein, danke«, murmelte Taleke.
»Du wirst doch nicht auch krank werden?«
»Nein, ich werde nicht krank«, antwortete Taleke gereizt. »Ich weiß nur nicht, wie es weitergehen soll! Werde ich die Welt in Zukunft nur noch bei Dunkelheit erleben? Das könnte ich nicht ertragen!«
»Ich weiß leider auch nicht, wie ich dich aufheitern könnte. Im Gegenteil, ich habe sogar noch etwas Übles herausgefunden. Neses Ableben war erwünscht.«
»Das heitert mich wahrlich nicht auf! Dieser Pater Dionysius konnte seine Gier nach dem Grundstück auf kirchlichem Gelände ja kaum verbergen, auch nicht seine Verachtung für die Bewohner der Hütte. Und wenn der Aussatz nicht tauglich war, um die Familie hinauszubefördern, dann eben die Blattern. Sie werden es schaffen, es sei denn, der Sohn heiratet ganz rasch, damit eine Frau ins Haus kommt.«
Wittenborch schüttelte den Kopf. »Zu spät. Neses Mann wurde inzwischen als städtischer Armer im Heiligen-Geist-Hospital aufgenommen, und der Sohn ist verschwunden.«
»Das ist genau das, was die Domherren wollten. Nese wusste es, aber Tidemann – ihr Ehemann – weigerte sich, an eine solche Hinterlist zu glauben. Blattern und Aussatz über dieses kirchliche Pack!«, fauchte Taleke und steigerte sich immer mehr in ihre Wut hinein. »Die Priester nutzen die Blattern kaltschnäuzig, um ihre Ziele durchzusetzen, aber den Gläubigen erklären sie, es handele sich um Gottes Strafe. Pfui, welch verruchte Gilde von verruchten Kaufleuten, die himmlische Versprechungen verkaufen!«
»Gilde?«
»Jawohl! Die Priester sind nichts als eine Gilde zum Einsammeln von Spenden. Mit strengen Regeln wie bei den Bettlern, die mich auch nicht hätten aufnehmen wollen.«
»Priester liefern Hoffnung.«
Glaubte Wittenborch das wirklich? Der Spott in seinen Augen sprach dagegen. Trotzdem wollte Taleke sich endlich von der Seele reden, was sie schon so lange beschäftigte. »Ja! Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die sie nie einlösen müssen. Die nach ihnen kommenden Priester versprechen das Gleiche. Das Handfeste ist immer das Geld, das alle, die auf dem Feld, im Handwerk und im Handel arbeiten, erwirtschaften und der Kirche spenden müssen. Priester erwirtschaften nichts. Sie
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