Die Heilerin von Lübeck
verkaufen nur die Hoffnung auf ein Himmelreich, das keiner von ihnen je gesehen hat. Die Priester sind Lügner, aber sie haben es geschafft, den Gläubigen einzureden, es gäbe das Fegefeuer. Und davor haben die Leute zu viel Angst, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen! Wie lange wird es noch dauern, bis sie sich für ihre Verbrechen verantworten müssen?« Haltlos begann Taleke zu weinen.
Volrad nahm sie in den Arm. Tideke setzte sich mit erschrocken aufgerissenen Augen im Bett auf.
Talekes Schluchzen ebbte ganz allmählich ab. Dann befreite sie sich aus den Armen des Schiffers, schneuzte sich die Nase und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich habe inzwischen so vieles als wahr erkannt, was meine Mutter mir erzählte, ich aber nicht hören wollte. Trotzdem weiß ich gar nicht, was über mich gekommen ist«, murmelte sie verlegen. »Wenn das jemand mitbekommen hätte … Außer euch, meine ich.«
»Du hast so recht, Taleke. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aufmerksame Menschen sehen das genauso wie du. Aber wir sind noch nicht so viele. Die Priester stehen geschlossen auf der Brücke ihres Schiffes, will sagen, sie sitzen fest im Sattel. Das Domkapitel saugt Lübeck aus. Die Kaufmannschaft der Stadt versucht immerhin mit aller Kraft, sich gegen die Priesterschaft zur Wehr zu setzen.«
»Ja, aber wem nützt das schon?«
»Ich hoffe, dir. Denn die Stadt hat die kirchliche Anklage des Maleficiums unter ihre Fittiche genommen, um sie mit den eigenen Anklagen zu vereinen.«
»Und das soll für mich gut sein?«
Volrad hob ratlos die Schultern. »Vielleicht. Ich kann dir jetzt mitteilen, was die zusammengenommenen Anklagen beinhalten.«
»Bitte.«
»Als Erstes wirft dir die Kirche vor, über Maître Josse von Paris behauptet zu haben, er könne einem verkrüppelten Kind besser als der heilige Anno von Köln helfen.«
»Das ist ja auch wahr«, beharrte Taleke.
»Dann hat die Tiburga dich als Engelmacherin angezeigt.«
Taleke lachte unkontrolliert und merkte selber, wie schrill sie klang. Aber sie hatte keine Macht mehr über ihre Stimme.
»Des Weiteren habest du in boshafter Absicht zu verhindern versucht, dass die Hütte des Binnenschiffers Tidemann ordnungsgemäß an das Domkapitel zurückfällt.«
Sie hatte dafür gekämpft, dass die Familie nicht unter der falschen Beschuldigung des Aussatzes auseinandergerissen wurde. Mehr nicht.
»Schließlich sollst du mit einem Jesuskreuz Gotteslästerung begangen haben. Dazu kommt dann die Anklage der Kaufmannschaft wegen der Blattern.«
Jetzt war der Augenblick gekommen, an dem Taleke sich mit aller Macht gegen diese tückischen Anklagen wehren musste. Es war Zeit, Volrad alle ihr Beobachtungen und Gedanken rückhaltlos darzulegen. »Ich glaube, ich habe meinen Fischotter gefunden, Volrad!«
Volrad wusste sofort, was sie meinte. »Ist es Nicolaus?«
Taleke nickte. »Ich habe tagelang darüber nachgedacht, und ich glaube, Hermen hat mit seinen wilden Wespen bestätigt, dass ein Blatternstecher umgeht. Nicolaus und ich haben in Paris in einem Buch gelesen, dass die Römer in früheren Zeiten Banden ausschickten, die Feinde oder Konkurrenten durch Stechen mit Krankheiten ausschalteten. Es kann nur er sein, der sich so etwas als großen Spaß für Lübeck ausgedacht hat.«
»Hat er das Buch noch?«
»Das weiß ich nicht, es gehörte der Bibliothek. Aber er hat ja ein blendendes Gedächtnis, wie du selbst weißt.«
»Sagtest du nicht, dass es in Paris auch Blatternkranke gab und du als Folge davon fliehen musstest?«
»Ja.«
»Dann mag er es zwar seinen Freunden als Schabernack präsentieren, der in Lübeck Aufregung verursachen wird, so wie er ja stets nach Beifall dürstet. Manche Freunde mögen es sogar glauben, weil Todesfälle außerhalb ihres Kreises sie nicht interessieren. Aber es ist kein Spaß, nicht einmal für Nicolaus: Sein einziges Ziel ist es, dir zu schaden.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja. Und was er in Paris nicht geschafft hat, weil wohlwollend gesonnene Menschen dir geholfen haben, wird ihm in Lübeck umso leichter fallen, denn hier hat er die einflussreichen Freunde. Sollte er auch hinter der Causa Taleca de Lubeca stecken …«
»… ist es für mich noch gefährlicher geworden«, ergänzte Taleke nüchtern. »Jetzt habe ich auch hinreichend Grund für den Verdacht, dass Nicolaus in Paris eine Schweineherde auf mich gehetzt hat. Dem Angriff bin ich nur entkommen, weil ich in eine uralte Kapelle hineinpurzelte. Der heilige
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