Die Heilerin von Lübeck
gewaltige Summe eingestrichen habe, hauen wir beide ab. Tideke braucht jetzt keine Amme mehr. Stimmt’s, Meisterin?«
Taleke nickte, geschlagen von der rasanten Geschwindigkeit, mit der ihr Schicksal auf einmal ihren Lauf nahm.
Taleke verließ gemeinsam mit dem Schiffer ihr Haus. »Ich darf ja wohl nicht mitgehen?«, fragte sie tastend.
»Giovanni ist einer von Nicolaus’ Freunden. Dann könntest du auch gleich bei Nicolaus vorsprechen. Sollte es etwas sein, das du wissen musst, komme ich heute Nacht noch zu dir.«
»Gut. Ich bin in Mettekes Haus untergeschlüpft. Ich werde aufbleiben«, versprach Taleke.
Als sie in Mettekes Hütte ankam, war diese schon zu Bett gegangen und schnarchte laut und irgendwie zufrieden. Seitdem Taleke bei ihr im Haus lebte, sie mit verschiedenen Abkochungen und Salben traktierte und gehaltvolles Essen kochte, ging es der alten Dirne viel besser. Die Beine waren schlanker, sie schnaufte nicht mehr so laut und besuchte hin und wieder eine Nachbarin, nicht ohne einen Gegenbesuch abzulehnen, wie Taleke sie beschworen hatte.
Taleke fachte das schwach glimmende Feuerchen wieder an, bis kleine Flammen aufflackerten, die ein wenig Wärme abgaben. Dann hüllte sie sich in eine Decke und setzte sich nahe ans Feuer.
Die Decke kratzte an ihrem Kinn, und da fiel ihr wieder ein, dass Tideke sich auf gänzlich unbekanntem Wege die Krankheit geholt hatte, möglicherweise über eine Decke, wohingegen die Butter entlastet war. Sie war nicht schuld am Ausbruch der Blattern, sondern das Stechen. Nur hatte der römische Kaiser die Pest stechen lassen, keine Blattern. Oder sollte derjenige, der das Peststecher-Traktat an Razes’ Pockenbeschreibung angehängt hatte, herausgefunden haben, dass Pest und Pocken bei den Römern ein und dasselbe meinte? Taleke kannte Pest nur als Ausdruck des Abscheus, eine Krankheit dieses Namens gab es nicht.
In Lübeck wie schon in Paris wurden die Blattern durch Nadeln übertragen, das stand fest. Und da Tideke sich nur in der Nähe eines Blatternhauses aufgehalten hatte, deutete alles darauf hin, dass die Blattern entweder durch die Luft oder eben durch eine Wolldecke ihr nächstes Opfer gefunden hatten.
Seltsam, aber Nadeln und Wolldecken waren dem Fischotter irgendwie ähnlich. Besser jedenfalls, als ihr Vorkommen einem Herrn im Himmel zuzuschreiben, der sich wenig um sein Menschenvolk kümmerte. Am meisten noch um Ratsherren. Mit der Luft wusste Taleke hingegen nichts anzufangen. Vielleicht stimmte es ja nicht.
Viel später, als Taleke sich ausgemalt hatte, kam Volrad zu ihr. Müde und süßlich wie nach Weingenuss duftend, sank er auf einen Hocker und streckte die Hände wortlos zum Feuer hin.
»Es war eine böse Nachricht«, erklärte er schließlich. »Ein Freund von Nicolaus ist an Blattern gestorben.«
»Hat Nicolaus etwa an ihm noch mal erprobt, was er längst wusste?«
»Nein. Viel schlimmer. Nicolaus hat sich aus seinem Freundeskreis eine Bande zusammengestellt, die nach römischem Vorbild die Stecherei betreibt. Sie sind zu fünft. Ein junger Kaufmannslehrling ist mit der Nadel, an der die Blatternkrusten hafteten, zu sorglos umgegangen und hat sich selbst gestochen. Er ist gestern gestorben. Seine drei jüngeren Geschwister sind schwer erkrankt.«
Entsetzt verbarg Taleke ihr Gesicht in den Händen. »Wie kann er nur!«, flüsterte sie.
»Ja. Und er beteiligt sich nicht einmal selbst an der Stecherei, er weiß wohl um die Gefährlichkeit. Er verteilt nur diese Borken, die er in einem Holunderröhrchen aufhebt.«
Borken, die Nicolaus sich bei den ersten Kranken in der Pariser Vorstadt besorgt haben musste. Sie wurden nach der römischen Methode von den abgeheilten Blatternbläschen gezupft und dann vor der Verwendung zermahlen. Auf einmal fiel es Taleke wie Schuppen von den Augen. Ote! Nicolaus hatte den Jungen zu den Wöchnerinnen geschickt, vermeintlich mit Medizin von Taleke. Die würden daran geschnuppert oder das Pulver in Wasser gelöst getrunken haben. Und waren anschließend an Blattern erkrankt.
Hinzu kam die Vermutung, dass Nicolaus ganz gewiss nicht zwischen Kinderblattern und Kinderflecken unterscheiden konnte, weswegen sein gesammeltes Borkenpulver aus einem Gemisch von beidem bestanden hatte. Ote, der Blattern schon früher gehabt hatte, war deshalb nur an den Flecken erkrankt, gefährlich genug, aber längst nicht so häufig tödlich wie die Kinderblattern.
»Hast du eine weitere Entdeckung gemacht?«, erkundigte sich
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