Die Heilerin von Lübeck
sperren doch nur die dummen Templer ein! Wenn du das nicht weißt, bist du genauso dumm«, rief eines der Mädchen aus begütertem Haus, die Taleke gewohnheitsmäßig verspotteten, wenn ihr ein französisches Wort unbekannt war.
Emihild wollte antworten, aber sie wurde von der Freundin der Ersten überschrien. »Die Tempelritter haben sich an uns allen bereichert, sagt mein Vater, und gehören geköpft! Sie sind Schnapphähne und Beutelschneider!«
»Malefizbuben und Galgenvögel«, ergänzte die andere, Tochter eines der wichtigen Männer von Paris, vermutlich ähnlich wie ein Lübecker Ratsherr, mutmaßte Taleke. »Meinen Vater haben sie betrogen, weil sie alle Münzen der Welt horten.«
»Und fälschen!«
»Und fälschen, das stimmt.« Mit großer Befriedigung nickten die beiden einander zu.
Emihild schüttelte irritiert den Kopf. »Ihr jungen Mädchen verwechselt da etwas. Tempelritter betrügen nicht. Sie würden damit auch Gott, unseren Herrn, betrügen, und das verträgt sich nicht mit ihrem Eid.«
Die beiden Mädchen flüsterten miteinander und kicherten. Taleke hörte Spott und Überheblichkeit heraus. Emihild wurde rot, offenbar wusste sie, welche Heimlichkeiten die Mädchen austauschten. Sie tat Taleke leid. »Werden sie verhaftet wegen der Sodomie, die den Rittern vorgeworfen wird?«, fragte sie geradeheraus.
Die Mädchenschar erstarrte. Emihild gab ein Quietschen von sich wie ein Schwein vor dem Schlachten, raffte den langen grauen Rock hoch und eilte aus dem Unterrichtsraum. Als Taleke sich umsah, begegneten ihrem forschenden Blick lauter vor Staunen offene Münder.
Nach langer Zeit trat die Grande Dame des Beginenhauses in den Raum und erklärte den Unterricht für diesen Tag für beendet.
Voller Trotz wanderte Taleke nach Hause. Obwohl sie die Sprache mittlerweile ganz gut beherrschte, verstand sie nicht die Aufregung, die sie verursacht hatte.
Nicolaus lag noch unter Decken vergraben. Irgendwann wühlte er sich heraus, gähnte und verlangte nach Wein. »Hat sich alles beruhigt?«, fragte er nach dem ersten Schluck.
»Auf den Straßen, ja. Aber im Unterricht nicht. Ich habe mich nach Sodomie erkundigt, und daraufhin wurde für heute Schluss gemacht.«
»Du hast …?«
»Ja. Warum denn nicht?«
Nicolaus trank, ohne zu antworten, seinen Becher leer und zog die Decken wieder über den Kopf.
Am späten Nachmittag widmete sich Taleke ihren Gänsen, die ihr oder dem Haferbrei entgegenschnatterten. »Ich komme ja schon, ihr Lieben.« Ihr Geflügel verstand sie besser als die dummen Gänse aus reichem Hause.
Später setzte sich Taleke an ihre Studien. Lateinische Vokabeln waren zu lernen und die medizinischen Bücher durchzuarbeiten, die für Nicolaus entliehen worden waren. Je mehr sie davon begriff, desto eifriger studierte sie. Es war eine ganz neue Welt, die sich ihr hier erschloss, und sie konnte nicht verstehen, dass Nicolaus aus freiem Willen darauf verzichtete.
Obwohl Nicolaus am nächsten Tag wie gewohnt seiner Arbeit nachzugehen beabsichtigte, befahl er Taleke, allein die Bibliothek aufzusuchen und festzustellen, ob die Bücher, die er bestellt hatte, schon für ihn bereitlagen.
Taleke war erleichtert wegen seines neuen Eifers. Trotzdem hatte sie Bedenken. »Wird man mir die Bücher denn aushändigen?«
»Kein Problem. Ich habe dem Bibliothekar angekündigt, dass du ohne mich kommen wirst, wenn ich keine Zeit habe, und ihm ein paar Münzen zugesteckt. Nur in den Lesesaal darfst du selbstverständlich nicht.«
Sie nickte, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr sie dieses
selbstverständlich
ärgerte. Über den Auftrag hingegen freute sie sich. Der Weg zur Bibliothek auf der anderen Seineseite war weit, aber gelehrten Leuten flog ihr Herz zu, und dem Lateinviertel mit seinem bunten Gemisch aus Studenten, Priestern und ihren Huren gehörte ihre ganze Liebe.
»Weißt du, Nicolaus«, begann sie spontan, »mir ist etwas eingefallen. Möchtest du, dass ich die Briefe an deinen Vater schreibe? Du diktierst sie mir, und ich schreibe. Ich übe mich im Schreiben, und dein Vater und deine Mutter würden sich gewiss freuen, öfter Nachricht von dir zu erhalten.«
»Sie kennen meine Handschrift«, murrte Nicolaus abweisend.
»Du hast eine schmerzhafte Kontraktion der Muskeln von Daumen und Zeigefinger, und Maître Josse verbietet dir, sie in deiner Freizeit zu sehr zu beanspruchen. Für dich schreibt der Pater, der die Studierenden des Lübecker Hauses betreut. Wie wäre
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