Die Heilerin von Lübeck
das?«
Nicolaus stutzte, dann setzte er ein Grinsen auf. »Wahrhaftig. Du bist pfiffig für zwei, Taleke. Vielleicht erhöht mein Vater mir die Bezüge, wenn er öfter von mir hört. Und du besorgst dir jetzt anständige Kleidung. Ich möchte nicht, dass die Leute glauben, ich hätte dich im Armenhaus aufgelesen. Das wäre meiner nicht würdig.«
Auf das Aussehen kam es an. Kaum hatte Taleke das Lateinviertel betreten, als sie den Beweis dafür bekam. In ihrer Nähe unterhielten sich drei Frauen mit auffallend schrill gefärbten Kleidern. Als wäre ihnen durch die Luft eine Warnung zugegangen, stellten sie ihr Schwatzen plötzlich ein, blickten zwei Männern entgegen, die sich durch nichts als ihren entschlossenen Gleichschritt auszeichneten, und stoben in verschiedene Richtungen auseinander.
Die Männer setzten gemeinsam einer der drei Frauen nach, die sie in Talekes Nähe stellten. Räuber? Taleke sah sich verzweifelt um, aber alle Geistlichen und Scholaren waren wie vom Erdboden verschluckt.
Der eine Kerl riss der Frau den goldfarbenen Gürtel mit roher Gewalt vom Leib, der andere trat ihr die Beine fort, so dass sie in den Straßendreck fiel. »Kennst du die Bestimmungen immer noch nicht? Huren tragen keine goldenen Gürtel! Das ist das Gesetz des Königs!«
Das Gebrüll war so bedrohlich, dass Taleke sich die Ohren zuhielt. Aber sie hatte verstanden, dass hier die Obrigkeit tätig war.
Die Frau wimmerte vor Schmerzen.
Der Maréchal bückte sich, packte sie am Oberarm und riss sie hoch. »Du kommst mit. Auspeitschen und Pranger sind dir sicher, wenn nicht sogar der Richtblock als Zeichen für deinesgleichen, die Gesetze endlich ernst zu nehmen!«
Während die Männer die Frau zwischen sich davonschleiften, war Taleke von Herzen dankbar, dass sie ein unauffälliges, ungefärbtes Leinenkleid mit einem neuen geflochtenen Gürtel trug. Nachdem ihre Reisekleidung bei der Ankunft in Paris zerschlissen gewesen war, hatte sie dieses preiswert bei einem der Händler für gebrauchte Waren erstanden.
Und doch trafen Taleke in der Bibliothek befremdete Blicke, während sie dem Gespräch mit dem Bibliothekar entgegenfieberte. Nicolaus hatte recht, sie durfte nicht wie eine Dienerin herumlaufen, sondern sollte sich besser wie eine gutgestellte Bürgerin kleiden.
Mit feuchten Händen wartete sie darauf, dass die Männer in den Talaren mit ihren umständlichen Buchbestellungen endlich zu Rande kamen.
Der alte Mann erkannte sie, nachdem er sich vorgebeugt und sie genauer betrachtet hatte. »Die beiden Bücher für den Lehrling des Maître Josse«, sagte er sofort.
Taleke nickte mit dem herzlichsten Lächeln, das sie aufbieten konnte. »Ein Buch wurde versehentlich bei der Bestellung vergessen.
Trotula de passionibus …
«
Der Finger des Meisters der Bücher eilte durch die Auflistung von Namen auf einer Wachstafel. »Kein Problem. Es ist vorhanden und nicht vorbestellt. Möchte er beide Werke haben?«
Gab es zwei Bücher unter diesem Titel? »Ja, ja«, bekräftigte Taleke. »Natürlich.«
Außer dem Buch über die Frauenleiden legte der Bibliothekar ein weiteres mit dem Titel
Ornatu mulierum
vor Taleke hin und prüfte nochmals seine Unterlagen. »Damit ist das gegenwärtige Kontingent ausgeschöpft. Vier Bücher abgeliefert, vier entliehen.«
So einfach hatte Taleke es sich nicht vorgestellt. Dass er keine Einwände gegen ein Buch über Frauenkrankheiten zu Händen eines Chirurgenlehrlings erhob, wunderte sie.
So schnell sie konnte, eilte sie nach Hause, wo sie sich praktisch mit angehaltenem Atem in die beiden Bücher vertiefte. Als Nicolaus abends zurückkehrte, blieb er stumm in der Tür stehen und starrte zu Taleke hinüber, die am Tisch vor dem Fenster saß. Sie spürte die Bedrohung und wurde nervös.
»Mein Essen?«
»Ich habe es vergessen«, bekannte Taleke kleinlaut. Sie hatte nicht den Mut, ihm entgegenzuhalten, dass er oft auswärts aß. Warum nicht heute?
Nicolaus war mit wenigen Schritten bei ihr und versetzte ihr zwei Ohrfeigen, dass ihr Hören und Sehen verging.
Es war das erste Mal, dass er sie schlug.
Kapitel 9
Die Gänse mussten natürlich vor Beginn der Fastenzeit, die mit dem Fest zur Feier der Geburt Jesu Christi endete, geschlachtet und verkauft werden. Taleke begann am Anfang des Herbistmanoth mit dem Schlachten, um am vierundzwanzigsten, dem Tag vor Fastenbeginn, alle Gänse verkauft zu haben.
Schlachten, Rupfen, Herausnehmen des Bauchfetts und der Innereien waren schnell
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