Die Heilerin von Lübeck
vorsichtig.
»Um sich erst Tage danach vor Trauer ins Bett zu legen …?« Zu Talekes Beunruhigung schenkte sich Meister Josse einen weiteren Becher Wein aus einem Krug ein, der neben dem Bett stand, und leerte ihn. Wenigstens ersparte es ihr eine Antwort, denn er vergaß anscheinend seine eigene Frage. »Hat er Fieber?«, lallte er.
»Es könnte sein … Ich werde ihm kalte Umschläge machen.«
»Du bist ziemlich resolut, Tela…«
»Taleke.«
Josse holte mit dem Arm weit aus. »Egal. Du bist jedenfalls tüchtiger als dein Gefährte. Der ist ein Tölpel. Es wird Jahre dauern, bis man ihm Verletzte zur selbständigen Behandlung anvertrauen kann. Wenn überhaupt jemals. Ihm fehlt das Interesse für die Chirurgie.«
Taleke hatte bereits befürchtet, dass der Meister mit Nicolaus unzufrieden sein könnte. Trotzdem war sie überrascht, dass er es so unverblümt aussprach.
»Sag deinem Galan, dass er mehr lesen soll, um zu begreifen, was er tut. Vor allem den
Qanun al-Tibb
von Ibn Sina, bei uns genannt
Kanon der Medizin
von Avicenna. Der enthält unter anderem einen Band über die Chirurgie.«
»
Qanun al-Tibb, Kanon der Medizin
von Ibn Sina oder Avicenna«, wiederholte Taleke. »Werden wir ihn auch bekommen? Gehört er nicht zu den verbotenen Werken?
De animalibus
war für uns nicht erhältlich.«
Maître Josse stutzte. »Woher weißt du, welche Bücher verboten sind?«
»Nicolaus erzählt es mir«, schwindelte Taleke in ihrer Not. Josse war zwar betrunken, aber nicht geistesabwesend.
Der Chirurg wedelte mit dem Zeigefinger, als wäre er das Pendel eines Baumeisters. »Ää«, gurgelte er. »Der nicht. Das liegt nicht in seiner Natur. Liefere eine glaubhafte Erklärung.«
»Ich war mit Nicolaus in der Bibliothek«, gab sie mit einem Seufzer zu. »Zu Hause lesen wir die entliehenen Werke gemeinsam.«
»Ich verstehe. Du liest sie also. Auf Latein?«
»Ich lese vor, und Nicolaus übersetzt. Aber manchmal verstehe ich den Inhalt schon schneller als er, obwohl er gut Latein kann«, erklärte Taleke. »Ich lerne Latein bei den Beginen.«
»Nun, so etwas hätte man sich denken können. Sieh zu, dass dein Nicolaus morgen wieder auf die Beine kommt. Heute gehe auch ich nicht aus, aber aus anderen Gründen als er. Heute gehen in Paris einige nicht aus.«
»Ich habe es bemerkt«, meinte Taleke in sein unverschämtes Grinsen hinein, das ihr unverständlich blieb.
Er nickte, als sei dies selbstverständlich. »Kühle dir die Stirn zu Hause mit einem nassen Lappen. Besser spät als gar nicht. Blut fließt unter der Haut zuweilen geraume Zeit. Und sei vorsichtig.«
Taleke schmunzelte wegen seines Ratschlags für ihre harmlose Blessur und stand auf. Sie war verabschiedet. Insgesamt war sie dankbar, dass es so glimpflich abgelaufen war. Meister Josse war alles andere als ein Faselkönig.
Draußen auf der Straße verstand sie, was der Maître mit seiner letzten Bemerkung gemeint hatte. Nicht Vorsicht wegen des Blutergusses war gemeint, sondern wegen der Reiter des Königs, die mittlerweile die Straßen füllten. Ein bewaffneter Trupp nach dem anderen jagte aus der Stadt hinaus.
Es musste mit den Templern zu tun haben. Als ein Karren mit einem Gitteraufsatz an ihr vorbei stadteinwärts rumpelte, sah sie graue, gebeugte Köpfe über weißen Mänteln, auf denen gelegentlich ein roter Balken aufleuchtete.
Trotz allem: Was scherten Nicolaus diese Kriegermönche? Und was seinen Meister Josse? Warum erklärten sie sich beide für krank an dem Tag, an dem die Mönche verhaftet wurden? Taleke spürte Unbehagen, ohne es sich erklären zu können.
»Was hat er gesagt?«, erkundigte sich Nicolaus, als sie ins Zimmer getreten war. Seine Stimme hörte sich unter den Decken, unter denen er steckte, dumpf an.
»Dass du lesen sollst, während du krank bist. Meister Josse besucht heute keine Patienten. Er leidet auch.«
»Glück gehabt.« Trotzdem kam Nicolaus nicht auf die Beine.
Am frühen Nachmittag ging Taleke zum Unterricht bei den Beginen. Die großen Straßen waren jetzt wie leergefegt, aber in den Nebengassen der Rue Saint-Denis hatten die Bäcker wieder geöffnet, und die Garköche hielten Brot mit Hühnerklein oder mit Knoblauch und grünen Kräutern gewürzten Käse bereit. Es wurde wie gewöhnlich gehandelt und geschmaust.
»Mutter Emihild, was ist da draußen heute los?«, fragte Taleke, noch bevor der Unterricht begonnen hatte. »Irgendetwas Schlimmes geht vor sich, aber ich weiß nicht, was.«
»Ach, sie
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