Die Heilerin von Lübeck
Leichen Nicolaus auf seinem Weg hinter sich ließ. Zu viele. Taleke mahlte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und hoffte, dass das Geschrei bald aufhören möge.
Die Ankläger beruhigten sich nicht, im Gegenteil. Aber bevor sie gewalttätig werden konnten, stoben Reiter der städtischen Miliz durch die Gasse und vertrieben sie.
»Was machst du denn nur, Nicolaus?«, fragte Taleke erschüttert, als alles wieder ruhig geworden war, und sank auf ihr Bett. »Du darfst doch gar nicht ohne deinen Meister behandeln! Wen hast du umgebracht?«
»Wieso umgebracht?«, schnauzte Nicolaus. »Es war die gewöhnliche Arbeit eines jeden Chirurgen. Ich habe jüngst bei einem Kerl, der unter einen Wagen mit Fässern geraten war, vier Finger amputiert. Er hat zu viel Blut verloren.«
»Er ist also verblutet. Das darf doch einem Chirurgen bei der Entfernung von Fingern nicht passieren! Weißt du denn nicht, wo du abbinden musst?«
»Natürlich weiß ich das!«, schimpfte Nicolaus. »Unglücklicherweise hatte dieser Mann seine Adern an einer anderen Stelle als andere Menschen! Das kann doch ich nicht ahnen.«
»Wahrscheinlich nicht.« Taleke gab vorläufig auf. Streit hatte keinen Sinn, wenn Nicolaus zur Einsicht nicht fähig war.
»Übrigens«, setzte Nicolaus in gehässigem Ton fort, »solltest du dich nicht so in den Vordergrund spielen. Ich bin der künftige Chirurgus. Du schwatzt hier und da mit den Frauen und erntest allein dafür Anerkennung. Als ob die Leute nicht wüssten, dass es schwieriger ist, einen Zahn kunstgerecht zu ziehen, als gelegentlich ein paar Kräuternamen fallenzulassen.«
»Deine Arbeit ist gewiss schwieriger, zugegeben. Aber weißt du, ich verbreite Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Kinder, die die ersten schwierigen Jahre durchstehen.«
»Es ist also nicht so, dass du die ersten Jahre mancher Kinder verhinderst?«, fragte Nicolaus lauernd.
»Manchmal«, gab Taleke unumwunden zu. »Wenn es aussichtslos ist, dass ein weiteres Kind die ersten Jahre überleben könnte, weil die Geschwister das wenige Essen noch teilen müssten und es allen dann noch schlechter ginge. Dann rate ich zur Enthaltsamkeit in den kritischen Tagen. Man kann sie ausrechnen. Es ist ganz ähnlich wie bei Sauen.«
Nicolaus war außer sich vor Entrüstung. »Sauen! Allein dein Vergleich ist eine Todsünde, Taleke! Was maßt du dir an?«
»Ich maße mir nichts an«, antwortete Taleke gelassen. »Ich gebe Vorschläge wieder, die schon vor Jahrhunderten als vernünftig erkannt wurden.«
Nicolaus sah sie ungläubig an. Um ihn abzulenken, fragte Taleke schnell: »Ob die Leute wiederkommen?«
»Bestimmt nicht! Die haben doch Angst vor der Polizeitruppe. Heute haben sie gesehen, dass ich unter deren Schutz stehe.« Nicolaus lachte großspurig, vielleicht eine Spur zu großspurig, fand Taleke, die keineswegs beruhigt war.
Doch Nicolaus behielt recht, es passierte nichts weiter. Er verlangte nicht einmal von ihr, dass sie ihn bei Maître Josse entschuldigte. Vermutlich hatte der längst gehört, was passiert war und warum. »Kauf uns zur Feier des Tages etwas Gutes zu essen«, sagte Nicolaus, »ich habe es nötig.«
Das passte Taleke gut, bei der Gelegenheit konnte sie feststellen, ob die Hebamme bereit war, sie als Schülerin anzunehmen.
Als Erstes eilte sie in die Rue Saint-Martin, wo es die besten Pasteten gab, danach zu Cateline. Sie hatte längst in Erfahrung gebracht, dass diese ganz in der Nähe, in der Gasse der Eisenschmiede wohnte, die ihren Namen behalten hatte, obwohl die Schmiede wegen der Brandgefahr inzwischen vor die Stadtmauern gezogen waren.
Cateline war zu Hause. Als die Tür aufflog, stand Taleke einer älteren Frau gegenüber, der sich tiefe Sorgenfalten ins Gesicht gegraben hatten. »Wer braucht meine Hilfe? Du etwa?«
»Ja, aber nicht als Hebamme. Mein Name ist Taleke.«
Cateline zuckte zurück. »Du bist die Talèk? Ich habe von dir gehört. Willst du mich eines Fehlers bezichtigen?«
»Das läge mir fern«, sagte Taleke erstaunt. »Ich habe von dir nur Gutes gehört. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du meine Lehrmeisterin sein könntest.«
»Na, so was.« Die Frau ließ ihren Blick so lange Zeit auf Taleke ruhen, dass die bereits erwog, sich zu bedanken und zu gehen. »Gut, dann komm herein«, entschied die Wehmutter endlich.
In dem Raum, den sie bewohnte, hockte ein schmächtiger Junge, der noch keine zehn Winter erlebt haben konnte, aber wohl schon Schreckliches durchgemacht hatte. Sein
Weitere Kostenlose Bücher