Die Heilerin von Lübeck
sogar einen fördernden Einfluss auf den Verlauf der Geburt. Sie war tief beeindruckt.
»Weißt du, Taleke«, sagte Cateline auf dem Heimweg. »Zu Hause sagen wir: Eine Handvoll Liebe ist besser als ein Ofen voll Brot. Aber diese arme Frau könnte einen Ofen voll Brot allein verzehren. Meine Liebe erhält sie kostenlos.«
»Betreust du viele solche armen Frauen?«
»Ja. Die Priester mögen mich nicht. Deshalb holen reichere Frauen mich nicht mehr. Sie haben Angst, mein Ruf könnte auf sie abfärben.«
»Dein Ruf ist doch gut: Warum also?«
Cateline blieb stehen. »Taleke, ich will dir reinen Wein einschenken. Ich habe schon zweimal ein totes Kind im Mutterleib zerlegt, um die Mutter zu retten. Meine Mutter hat es mich gelehrt und mir dafür ein Werkzeug vermacht. Die Kirche sagt, es sei ein scheußliches Verbrechen gegen Gott. Wenn sich Mutter und Kind nicht im Zustand der Gnade des Herrn befinden, wie sie es nennen, verlangen sie, dass ich beide ins Fegefeuer eingehen lasse, wohin sie ihrer Meinung nach gehören. Aber ich will die Frau nicht sterben lassen, wenn ich weiß, dass ich ihr Leben retten kann!«
Taleke fühlte sich an ihre Mutter erinnert.
»Am schlimmsten gebärden sich die Priester bei unverheirateten Frauen, die arm sind und keine Familie haben.«
»In meiner Heimat sind viele schwangere Frauen unverheiratet, weil der Gutsherr sie zwingt, ihm zu Willen zu sein. Sie sind leibeigen und können sich nicht wehren. Nicht einmal mit Hilfe der Kirche. Und manchmal ist sogar ein Priester der Vater«, erzählte Taleke. Sie fühlte selber die scharfe Furche zwischen ihren Augen. Dass sie auch die Fäuste im Zorn ballte, merkte sie erst, als Cateline sanft nach ihnen griff.
»Das ist hier auf dem Land auch so. Glücklicherweise haben wir in der Bürgerstadt Paris keine Gutsherren mit einem derartigen Recht.«
Sie nickten sich verständnisinnig zu.
»Gut, dass du jetzt bei mir bist, Talèk.«
Auf dem Weg aus der Gasse der Eisenschmiede zum Seineufer entdeckte Taleke Maître Josse, der ihr entgegenschwankte. Er torkelte gegen Entgegenkommende und wurde schließlich von einem verärgerten Mann aus dem Weg geschubst. Dabei prallte er gegen eine Hausmauer, rutschte an ihr nach unten und hockte schließlich benommen auf dem Boden.
Taleke eilte zu ihm. Keiner sollte ihn in diesem Zustand sehen. Als sie ihn hochzuzerren versuchte, erkannte er sie und hatte seinen Verstand noch so weit beisammen, dass er mithalf. »Wir gehen jetzt auf dem kürzesten Weg zu Euch nach Hause«, flüsterte Taleke in scharfem Ton. »Habt Ihr verstanden?«
Er nickte bedächtig.
Wie ein Ehepaar, das seit vielen Jahren beisammen ist, wanderten sie untergehakt die Gassen entlang. Taleke, meistens mit einem Fuß in der Rinne, in der die gelbe Pisse floss, tat so, als rede sie auf ihn ein, aber die Leute ließen sich nicht täuschen, sondern grinsten spöttisch.
»Es scheint mein Schicksal zu sein, mich in Eurem Suff um Euch zu kümmern«, bemerkte Taleke erbost, als sie ihn endlich in seinem Zimmer abladen konnte.
»Das ist es wohl«, lallte er. »Aber besser Trunkenbold als Pharisäer.«
»Was ist das denn?«
»Ein Heuchler. Einer, der vorgibt, etwas anderes zu sein, als er ist. Die Steigerung des dummen zum feigen Lügner!«
»Was wollt Ihr mir denn damit sagen?«, fragte Taleke höchst beunruhigt.
»Ihr wisst nicht, wen oder was Euer Nicolaus wirklich darstellt, nicht wahr?«
»Er ist ein Kaufmannssohn aus Lübeck«, antwortete Taleke hilflos.
»Das mag stimmen. Außerdem ist er unfähig zu lesen, jedenfalls den Zusammenhang des Gelesenen sofort zu verstehen. Viel schlimmer für Euch ist jedoch, dass er ein Sodomit ist.«
Dieser Begriff war im Zusammenhang mit den Tempelrittern oft genug gefallen. Trotzdem wusste Taleke immer noch nicht, was er eigentlich bedeutete. Sie blieb stumm.
»Erinnert Ihr Euch an den Tag, als Philipp der Schöne die Tempelherren unter dem Vorwurf der Sodomie verhaften ließ? Ihr wart hier bei mir, um Nicolaus krankzumelden. Wie sich herausstellte, hatte es unser hoch verschuldeter König auf das Geld des unermesslich reichen Ordens abgesehen, alles andere war ein Vorwand. Aber niemand wusste das, und so versteckten sich alle Sodomiten mit Verstand am Tag der ersten Verhaftungswelle. Auch Nicolaus.«
»Wenn Ihr mir jetzt endlich erklären würdet, was ein Sodomit ist«, forderte Taleke unwirsch.
»Das sind Männer, die Männer lieben.«
»Nein!«, keuchte Taleke. Ihr wurde schwindelig. War
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