Die Heilerin von Lübeck
Gesicht war verunstaltet von Blatternarben, selbst die dünnen Ohrmuscheln.
»Mein Enkel«, brummte Cateline. »Er lebt bei mir, seit seine Mutter an den Blattern gestorben ist. Ein Maul mehr zum Durchfüttern. Immerhin kann Ote kleine Botengänge erledigen.«
»Ote«, sagte Taleke höflich und nickte ihm zu.
Der Junge starrte sie an, ohne eine merkliche Reaktion zu zeigen.
»Ich könnte Hilfe gebrauchen«, überlegte Cateline laut. »Die Wege werden mir manchmal zu weit und dauern zu lang. Wegen Ote …«
»Ich würde dir den Unterricht bezahlen, Meisterin Cateline.«
»Cateline reicht.« Sie gab sich unwirsch, aber das Angebot wirkte auf sie erkennbar verlockend.
»Ich habe viele Schriften studiert, allerdings fehlt mir jegliche Erfahrung«, gab Taleke unumwunden zu. »Ich habe noch nie Kranke oder Gebärende behandelt.«
»Ja, ja, Erfahrung«, nickte Cateline. »Bücher nützen nichts, wenn eine nicht weiß, was sie mit ihren beiden Händen anfangen soll.«
»Eben. Kann ich kommen?«
»Meinetwegen.«
»Wann?«
»Morgen zur Terz.«
Taleke bedankte sich und verließ die ärmliche Behausung. Cateline besaß offensichtlich weniger Geschirr als sie selbst. Vermutlich hatte sie auch keinen Garten, in dem sich eine Feuerstelle einrichten ließ. Im Zimmer war jedenfalls keine gewesen.
Auf dem Weg nach Hause ließ Taleke sich durch den Kopf gehen, was Cateline von sich preisgegeben hatte. Viel war es nicht gewesen. Und der Junge – konnte er überhaupt sprechen? Hoffentlich war ihre Idee so gut gewesen, wie sie anfangs gedacht hatte.
Pünktlich zur dritten Stunde des nächsten Tages traf Taleke bei ihrer Lehrmeisterin ein.
Cateline war überrascht, als hätte sie gar nicht an die Abmachung geglaubt. »Zeig mir deine Hände.«
Gehorsam streckte Taleke ihre Hände vor und wunderte sich zu erfahren, dass ihre Fingernägel zu lang waren. Cateline reichte ihr eine Schere, und nach dem Schneiden sollte sie die Hände mit einer Wurzelbürste schrubben, bis sie rot waren. »Warum?«, fragte Taleke.
Cateline zuckte die Schultern. »Ich habe es so gelernt und meine Lehrmeisterin von ihrer und so fort.«
»Weißt du«, sagte sie, als sie schon unterwegs waren, »eine Hebamme braucht oft Unterstützung. Die Frau muss gelagert, ihre Beine gespreizt und der Spalt offen gehalten werden. Der Kindsvater oder eine andere Person können das Kind entgegennehmen, aber für vieles braucht man eine geübte Hilfe.«
»Wie hast du es denn bisher gemacht?«, fragte Taleke erstaunt.
»Ote hat mir geholfen. Ich sage für gewöhnlich, dass er blind ist, seitdem er die Blattern hatte. Das macht es für die Frauen leichter, einen männlichen Helfer zu ertragen.«
»Und jetzt? Er hat doch sicherlich schon Schweres durchgemacht. Ist er dankbar, dass er abgelöst wird?«
»Im Gegenteil. Er ist eifersüchtig auf dich. Ich habe ihm versprochen, ihm eine Pastete mitzubringen. Von dem Geld, das du mir bezahlen wirst.«
»Selbstverständlich«, beeilte sich Taleke zuzustimmen. »Sie wird ihm bestimmt schmecken.«
»Wir hatten viele Wochen kein Fleisch. Nur Mus reicht nicht aus für ein Kind, das wachsen soll!«
Als hätte Cateline die Schriften der Griechen studiert. Taleke wunderte sich, dass sie das wusste. Außerdem sollte doch eine Frau, deren Ruf so gut war, entsprechend entlohnt werden!
Als sie bei der hochschwangeren Frau ankamen, erkannte Taleke schnell den Grund für Catelines Armut. In dem Kellerloch, in dem die Hilfsbedürftige hauste, war von einem Ernährer weit und breit nichts zu sehen. Ihre Rippen hoben sich erbärmlich von dem dicken Bauch ab und zeugten von ewigem Hunger.
Cateline krempelte sich die Ärmel hoch und fing fröhlich schwatzend an, den Bauch vorsichtig von außen zu betasten. »Ganz ruhig, Joscelin«, sagte sie aufmunternd zu den ängstlichen Augen der Frau, »heute passiert noch nichts. Morgen vielleicht. Dein Kind hat sich schon gedreht, der Kopf befindet sich unten, es ist alles goldrichtig. Wie es sein soll. Ich habe dir einen Kanten Brot mitgebracht, den isst du nachher schön. Und morgen in der Frühe komme ich wieder. Wahrscheinlich platzt die Eihaut im Laufe des Tages, und das Wasser geht ab. Dann hast du bereits einen wichtigen Teil der Geburt hinter dir.«
Joscelin lächelte erwartungsvoll, und Taleke begriff, dass die Hebamme genau das tat, was sie selber Nicolaus als Grund für ihren eigenen guten Leumund genannt hatte. Gutes Zureden gab Hoffnung. Wahrscheinlich hatte Hoffnung
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