Die Heilerin von Lübeck
das die Erklärung für sein seltsames Verhalten?
»Tut mir leid, dass Ihr es auf diese Weise erfahren musstet«, entschuldigte sich Josse bedauernd, nachdem er Taleke auf einen Hocker geholfen hatte und ihr Schwindelanfall vorüber war. »Ich wusste nicht, wie ahnungslos Ihr seid. Hat Nicolaus Euch nach Paris mitgenommen, um seinen Lehrern und Mitscholaren Sand in die Augen zu streuen?«
Taleke schlug die Hände vors Gesicht. Wie oft hatte sie sich gefragt, welche Rolle sie für Nicolaus spielte. Jetzt wusste sie es. »Ich kannte die Bedeutung des Wortes nicht«, brachte sie mühsam hervor.
Josse, der auf einmal ernüchtert wirkte, sah sie mitleidig an. »Es passiert öfter. Die Frau dient in solchen Fällen als Schutzschild für den Mann. Wenn er seine verbotenen Neigungen offenbaren würde, wäre ihm der Galgen sicher.«
Taleke nickte.
»So kann es im Leben gehen«, bemerkte Josse nüchtern. »Soll ich ihn anzeigen? Möchtet Ihr das? Ihr wärt ihn im Nu los.«
»N-nein«, stammelte Taleke. »Ich brauche ihn auch. Wenn ich ausgelernt habe, will ich nach Hause. Ich werde warten, bis er seine Prüfung gemacht hat, und dann reisen wir gemeinsam nach Lübeck zurück. Besser mit einem Pharisäer gereist, als unter Räuber gefallen.«
»Das ist vernünftig gedacht. Ich habe schon gehört, dass Ihr den Frauen im Viertel Ratschläge erteilt, die aus Eurem Verstand kommen und sehr erfolgreich sind.«
»Ja?«
»Ja! Ihr habt Talent für zwei Medici.«
»Das ist zu viel des Lobes«, bemerkte Taleke beschämt und stand auf. »Kann ich Euch jetzt alleinlassen?«
»Das könnt Ihr. Und warnt Euren Nicolaus. Die Medici, die Chirurgen und die Barbiere sind seit neuestem entschlossen, gemeinsam gegen die illegal praktizierenden Schüler vorzugehen. Die Mediziner der Fakultät von Paris haben bereits im vergangenen Jahrhundert von der Kirche das Privileg erhalten, in Paris und Umgebung tätig zu werden, ohne Konkurrenz fürchten zu müssen. Die Schnellsten waren sie noch nie, aber nun bereiten sie nach fast neunzig Jahren die ersten Prozesse vor.«
»Oh.«
Josse nickte. »Nicolaus sollte es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Präfekt lässt alle aufspüren, seinen Männern entkommt keiner, sagt ihm das. Würdet Ihr mir jetzt wohl den Krug aus der Ecke holen und einen Becher?«
»Ihr seid nicht zu bessern«, meinte Taleke kopfschüttelnd und stellte vor ihn hin, was er verlangt hatte.
Kapitel 14
Taleke war nur selten angriffslustig. Inzwischen hatte sie eingesehen, dass es meistens vernünftiger war, ihren Unmut gegenüber Nicolaus zu beherrschen. Aber nicht an diesem Tag, an dem sie sich von ihm derart hintergangen fühlte. Mitgenommen hatte er sie also ausschließlich, um andere zu täuschen, wozu beitrug, dass sie nicht ganz unansehnlich war.
Als Nicolaus nach Hause kam, trat Taleke dicht an ihn heran und schnupperte demonstrativ an ihm.
Nicolaus trat angewidert einen Schritt zurück. »Was ist denn mit dir los, dass du einen Straßenköter spielst?«
Taleke sah ihm geradewegs in die Augen. »Ich versuche zu ergründen, ob du wieder bei dem Mann warst, der in Rosenöl badet. Oder bei dem, der Lavendel benutzt? Ich habe beides schon öfter an deiner Kleidung gerochen.«
Nicolaus’ Gesicht nahm eine dunkelrote Farbe an.
»Meister Josse behauptet, du bist ein Sodomit. Er hat mir erklärt, was das Wort bedeutet.«
»Nun, dann weißt du es ja jetzt«, warf Nicolaus lässig hin. »Und auch, dass es ehrenwerte Männer gibt, die diese Form des Lebens wählen und außerdem bereit sind, das Heilige Land für die Christenheit zu retten. Das spricht für sie.«
»Aber du bist kein Tempelritter!«, fauchte Taleke. »Du hast mich betrogen, das ist etwas ganz anderes!«
»Wieso betrogen? Du bist freiwillig nach wenigen Tagen Bekanntschaft mit mir mitgekommen. Ich habe dir nie irgendwas versprochen. Und du hast hier die Gelegenheit erhalten, auf Kosten meines Vaters eine Menge zu lernen. In Lübeck hast du ein so breites Platt gesprochen, dass ich dich für eine Fremde hielt, jetzt kannst du schreiben, lesen, rechnen, außerdem verständigst du dich in Französisch und übersetzt Latein. In Lübeck werden dich die Beginen mit Kusshand als Lehrerin aufnehmen. Was willst du mehr?«
Seine Dreistigkeit verschlug Taleke die Sprache. Dann aber musste sie zugeben, dass er in gewisser Weise recht hatte. Nicht sie hatte wirklichen Schaden genommen, es waren nur ihre zuweilen aufgeflammten vagen, unausgesprochenen
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