Die Heilerin von Lübeck
Nacht zur Rechenschaft ziehen.
Am nächsten Vormittag weckte er sie, ließ sich ein süßes Mus als Morgenmahl richten und sagte, bevor er ging, in drohendem Ton: »Wir sprechen uns noch!«
»Ja, ja«, flüsterte Taleke ihm mit zusammengebissenen Zähnen hinterher und trat dann gegen die Tür. Mit der Plötzlichkeit eines Sommergewitters kam die Widerspenstigkeit ihrer Mutter auch über sie. Sie sprach Nicolaus kurzerhand das Recht ab, ihr zu drohen. Er war schließlich nichts als der immer noch ziemlich erfolglose Lehrling eines Chirurgen.
Am späten Nachmittag wanderte sie wieder zur Bibliothek. Der Herr der Ausleihe wirkte an diesem Tag rastlos und konfus, brachte ihr eine theologische Schrift, die weder für sie noch für Nicolaus bestimmt war, entschuldigte sich und schlurfte wieder davon. Sie hörte seine unsicher tappenden Schritte zwischen immer neuen Reihen von Buchrollen.
Als er dieses Mal mit der bestellten Buchrolle zurückkehrte, fasste er sich ein Herz. »Meine Frau leidet seit einigen Tagen an starker Atemnot«, flüsterte er, sich nach zwei tonsurierten Scholaren umsehend, die aus dem Lesesaal kamen, aber vor dem Ausgang stehen blieben und anscheinend die Ohren spitzten, um mitzubekommen, was er mit einer Frau zu verhandeln hatte. »Das zweite Buch für den kranken Lehrling Nicolaus hole ich sofort«, versprach er laut.
Die Scholaren verließen das Haus.
»So etwas hatte sie noch nie!«
»Könnte es Halsbräune sein?«, fragte Taleke beunruhigt. Bei Erwachsenen war diese Krankheit noch gefährlicher als bei Kindern und endete häufig tödlich.
»Weiß nicht. Könntet Ihr vielleicht …?«
Taleke nickte entschlossen. Wenn der Mann für einen Medicus Geld hätte, würde er ihn geholt haben. Sie war es ihm schuldig, zu tun, was in ihrer Macht stand.
»Ich schließe für heute ab, es dämmert ja schon«, verkündete der Bibliothekar erleichtert, »und zeige Euch den Weg. Wir wohnen etwas weiter weg, in der Rue Mouffetard, wo die Wohnungen wegen der stinkenden Gerberbetriebe billig sind … Das ist außerhalb der Stadtmauer. Ich hoffe, ich halte Euch nicht von etwas Wichtigem ab.«
»Eure Frau scheint mir in jedem Fall wichtiger zu sein.«
Die Frau des Bibliothekars lag im Bett und holte giemend wie eine sterbende Kuh Luft. Schon an der Haustür blähte Taleke die Nüstern, roch aber nichts Süßliches, wie es in den Büchern als kennzeichnend für Halsbräune beschrieben wurde.
Der Mann stellte Taleke vor, und zum ersten Mal in ihrem Leben wagte sie sich an die Inspektion einer Kranken. Die Frau war nicht auffallend warm, jedenfalls nicht heiß oder schweißig. Und es fehlte die grauweiße Verfärbung, die sich bei Halsbräune vom Kehlkopf bis zum Gaumen erstrecken sollte. Allerdings war sie so heiser, dass Taleke sie kaum verstehen konnte.
»Ist Eure Frau öfter heiser?«, erkundigte sie sich, weil ihr plötzlich Menschen zu Hause einfielen, die am Wasser lebten und gelegentlich unter ungefährlicher Heiserkeit zu leiden hatten.
»Ja, vor allem im Winter, am schlimmsten bei Nebel. Manchmal kann sie gar nicht sprechen, sondern muss mich am Ärmel zupfen, damit ich auf ihre Gesten aufmerksam werde. Schmerzen hat sie dabei meistens nicht.«
»Ich glaube nicht, dass es Halsbräune ist«, befand Taleke nach diesem Vorbericht. »Halsbräune verläuft dramatisch, sie führt zu Erstickungsanfällen. Eure Frau leidet, zweifellos, aber nicht unter Halsbräune. Sie benötigt Mittel, die die Kehle besänftigen.«
»Der Segen der heiligen Genoveva, der Schutzheiligen unseres Viertels, ruhe auf Euch«, schluchzte der Bibliothekar und strich seiner Frau erleichtert über die Wange. »Hast du gehört, Melisende? Es ist nicht schlimm.«
Die Liebe dieser beiden konnte Neid erwecken. Taleke lächelte sie nacheinander beruhigend an. »Ihr findet doch gewiss einen Apothecarius, der Euch Salbeiblätter verkaufen kann?«
»Oh ja. Oben bei Saint-Etienne-du-Mont. Wir, die dort eingepfarrt sind, müssen nicht bis ins Quartier Latin hinunterlaufen, um eine Apotheke zu finden.«
»Dann bereitet erst einmal Salbeimilch zu. Ihr kocht Milch auf, gebt Salbeiblätter dazu, lasst ziehen und seiht ab. Dieses Gebräu lindert das Kratzen in der Kehle und lässt sie wieder frei werden.«
»Ja.«
»Wenn Eure Frau einen Becher davon geschluckt hat, bereitet Ihr eine Abkochung aus Salbeiblättern mit Wasser zu. Lasst auch sie ziehen, versetzt sie mit Honig und Zwiebelringen und seiht wieder ab. Dieses
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