Die Heilerin von Lübeck
begann sie auf dem Treidelpfad zu rennen, als wäre ein bulliger Stier hinter ihr her, und hörte nicht eher auf, als bis sie im gemeinsamen Zimmer angekommen war, wo sie nach Luft schnappend auf ihr Lager sank.
»Bist du geflohen?«, erkundigte sich Nicolaus.
Taleke hatte ihn gar nicht gesehen, da er sich hinter der aufschlagenden Tür befunden hatte. »Wurde freigelassen«, keuchte sie.
»Das ging ja schnell.«
»Danke!«, murmelte Taleke, beschämt wegen ihres Misstrauens gegen ihn.
»Bitte.« Er war nicht weniger einsilbig als sie.
Taleke sank in einen todähnlichen Schlaf. Irgendwann wurde sie durch Lärm geweckt.
Drei Fremde füllten das kleine Zimmer. Nicolaus war von einem der Männer, der kräftig wie ein Lübecker Lastenträger gebaut war und auf ihn einbrüllte, in einer Zimmerecke eingeklemmt worden. Schützend hielt Nicolaus die Hände vor sein Gesicht, und darunter tropfte Blut auf sein Gewand.
»Was wollt ihr?«, schrie Taleke voller Wut. Der Gipfel dessen, was sie ertragen konnte, war erreicht. Gerade war sie freigekommen, und nun wollten sie Nicolaus verhaften.
Der Massige wandte sich zu ihr um. »Deine Hure, Lehrling, wieso hat man sie schon wieder entlassen?«
Diese Männer waren keine Maréchaux! »Ich bin seine Ehefrau! Es war eine Verwechslung!« Taleke sprang mit einem Satz vom Lager auf und ging mit ihren Fäusten auf den Nächststehenden los.
»Verwechslung?« Der Dicke brüllte vor Lachen und hielt sie mit einer Hand von sich fern.
Taleke hatte keinen Sinn für seine Späße. »Nicolaus, wer sind diese Strauchdiebe?«
»Wir«, antwortete der Schläger, inzwischen weniger belustigt, »sind die Brüder eines Mannes, den dieser Stümper ins Grab gebracht hat. Stimmt’s, du aufgeblasener Chirurgus?« Er packte Nicolaus’ Kehle und drückte zu, bis Nicolaus ein Röcheln von sich gab, das man als Zustimmung interpretieren konnte. »Ich sollte ihm die Hüfte kreuzweise aufreißen, damit er selber erproben kann, wie gut eine zerfleischte Hüfte heilt. Aber meine Brüder möchten, dass er vor unseren Augen stirbt. Hat schon richtigen Streit zwischen uns gegeben.«
Gemächlich wickelte der Jüngste ein langes, glänzendes Schlachtermesser aus einem Tuch und besichtigte es mit erkennbarem Stolz im Licht, das durch das Fenster fiel. »Eins meiner besten«, sagte er zufrieden. »Ich nehm’s meistens für Bullen.«
»Was meinst du dazu, hurerische Ehefrau? Du hast die Wahl.« Der Berserker musterte sie.
Taleke ignorierte seine zudringlichen Blicke. Ihre Gedanken rasten. Die Brüder würden Nicolaus ermorden und anschließend sie, weil sie Zeugin der Tat geworden war. »Dann bin ich dankbar, Nicolaus«, sagte sie in ihrem besten Französisch, »dass die Maréchaux Nouel und Pépin unterwegs sind, um mich zu einer Zeugenaussage wegen eines dringend Verdächtigen zu holen.« Und an die Eindringlinge gewandt: »Sie werden euch auf frischer Tat ertappen; ihr könnt natürlich stattdessen auch offiziell Klage gegen Nicolaus erheben, damit sie ihn gleich mitnehmen.«
»Maréchal Nouel?« Der Ältere der drei, anscheinend sehr schweigsam, sandte dem Jüngsten mit dem Messer einen warnenden Blick und schüttelte entschieden den Kopf.
Der murrte hörbar, versteckte aber seine Waffe wieder im Gewand.
»Wir hauen ab«, zischte der stille Anführer heiser. »Es muss ja nicht jetzt sein. Aber glaub nur nicht, dass du davonkommst, Meister der Stümper! Wir erwischen dich. Übrigens weiß unsere ganze Gilde Bescheid. Kein Schlachter wird dich jemals holen.«
Der Massige ließ Nicolaus abrupt los, so dass der an der Wand zu Boden rutschte.
Wie ein Spuk waren die Angreifer verschwunden. Man hörte kaum ihre Schritte auf der Treppe.
Nicolaus saß immer noch in der Ecke. »Woher wusstest du, dass dein Einfall mit den Maréchaux sie in die Flucht schlagen würde? Eigentlich war es eine unsinnige Idee. Sie hätten mich auf der Stelle abstechen können.«
»Unsinnig? Dass sie genau richtig war, siehst du ja am Erfolg. Ich dachte, du würdest mich zu meinem Einfall beglückwünschen. Immerhin hat er uns beiden das Leben gerettet.«
Nicolaus kaute unschlüssig an der Innenseite seiner Wange. »Nicht du, sondern ich wurde angegriffen! Bring mir Wein. Ich habe ihn nötig.«
»Ich auch«, seufzte Taleke matt und begann nach dem Krug zu suchen. »Was uns in den letzten beiden Tagen alles zugestoßen ist, ist ja kaum auszuhalten. Wie ist es dir gelungen, mich freizubekommen?«
Nicolaus zog die
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