Die Heilerin von Lübeck
Schultern müde hoch. »Ich war nicht daran beteiligt«, erklärte er mürrisch.
»Nein?«, fragte Taleke fassungslos und hielt ihm den am wenigsten schmutzigen Becher hin.
Er stürzte den Wein in einem Zug hinunter. »Nein. Ich hatte einen Wespenstich zu kurieren.«
»Ich habe den Apotheker nicht verleumdet«, schnaubte Taleke, mit den Gedanken wieder bei dem Unrecht, das ihr geschehen war.
»Sie werden es gemerkt haben. Der Wespenstich war dick wie ein Ball.«
Nein, an die Erkenntnis von Irrtümern durch die Justiz selbst glaubte Taleke nicht mehr. Dann begriff sie endlich, was Nicolaus gesagt hatte: Nicht er hatte sie herausgehauen. »Du hast mich ja auch ziemlich deutlich beschuldigt, eine Hure zu sein«, spann sie den Gedanken fort, während sie ihm den Becher aus der Hand nahm, um ihn für sich selbst zu füllen. »Verleumdungen und Hurerei, alles Dinge, mit denen ein rechtschaffener Bürgersohn natürlich nichts zu tun hat.«
»Was?«, rief Nicolaus mit schriller Stimme.
Taleke sah auf und merkte erst jetzt, dass sie laut gesprochen haben musste und wie sehr sie ihn beleidigt hatte. »Du hast mich beschuldigt …«
»Nicht ich. Die Leute. Und meine Freunde lachen mich wegen meiner Ahnungslosigkeit aus. Das kann ich nicht zulassen.«
»Und deshalb hast du mir ins Gesicht getreten?«
Nicolaus blickte zur Seite. »Ich war betrunken.«
Nein, das eben warst du nicht, dachte Taleke, plötzlich klarsichtig. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass er eine Art von Entschuldigung vorzubringen versuchte. »Du willst mich also nicht los sein?«
»Wieso los sein?«, fragte Nicolaus verwirrt. »Ich brauche dich.«
Ihr Nutzen hatte sich anscheinend noch nicht verbraucht. Oder er war zur Besinnung gekommen. »Welche Bücher soll ich für dich holen?« Taleke legte nur wenig Sarkasmus in ihre Stimme. Übertreiben durfte sie auch bei seiner gegenwärtigen Schwäche nicht.
»Keine. Ich muss mich jetzt hinlegen. Mach uns etwas Gutes zum Abendessen.«
Taleke sah sich um. Nicolaus hatte natürlich nichts besorgt. Sie musste wohl oder übel ausgehen und einkaufen, obwohl ihr danach wirklich nicht zumute war.
Sie fühlte sich beschmutzt, der Gestank des Gefangenenturms hing noch in ihren Kleidern, aber statt sich in ihrem Zimmer über die unerwartete Freilassung freuen zu können und wegen des missglückten Überfalls dankbar zu sein, hatte sie ihren Pflichten nachzugehen, als ob nichts geschehen wäre.
Als sie ihren Umhang umgelegt hatte, schnarchte Nicolaus bereits.
Und doch war sie draußen froh, in der frischen Luft zu sein. Von der Seine kam eine der seltenen Brisen herauf und nahm ihre Verzweiflung über die Ungerechtigkeit, die in der Welt herrschte, mit. Außerdem war Grübeln nicht hilfreich.
Talekes Ziel war der Ostteil der Bürgerstadt. Sie würde ihre Einkäufe dort tätigen, wo sie gewöhnlich nicht hinging und wo keiner sie kannte. Sie verspürte nicht die geringste Lust, über ihre Inhaftierung Auskunft zu geben. Vor allem ihre ehemalige Fischfrau würde vermutlich boshafte Mutmaßungen zu ihrer Freilassung vom Stapel lassen, die sich wie ein Lauffeuer im Viertel verbreiten würden.
Am Place de Grève, dem weitläufigen Rathausplatz, blieb sie stehen und schaute sich um. Der Platz erstreckte sich bis zur Seine hinunter, wo viele Boote auf dem Sand lagen. Umgeben war er von Weinstuben und Gasthäusern zur Versorgung und Unterhaltung der Fremden.
Taleke erschrak, als sie in der Nähe der Häuser Richtblock und Pranger entdeckte, städtische Einrichtungen, die für sie jetzt eine ganz andere Bedeutung bekommen hatten.
Am Galgen drehte sich sacht ein Leichnam. Seine Oberbekleidung ließ auf einen gutsituierten Bürger schließen. Von der Taille ab war er jedoch nackt. Seine Beine waren blutüberströmt. Man hatte ihm das Gemächt abgeschnitten, er war entweder noch lebend oder kurz nach seinem Tod kastriert worden. Unter Schaudern wandte Taleke sich ab. War es das, was auch Nicolaus hätte blühen können?
Anscheinend war sie jedoch die Einzige, die sich über einen solchen Tod Gedanken machte. Andere gingen ihren Alltagsgeschäften auch direkt neben dem Galgen nach.
Die wenigen vornehm angezogenen Männer, offensichtlich Kaufleute, besichtigten augenscheinlich die Ware, die am flachen Strand angelandet wurde. Träger hasteten von den mit Zeltplanen abgedeckten Kähnen zu einem Häuschen, in dem der Wiegemeister die Säcke wog und bescheinigte.
Taleke warf sich ins Gewühl, ignorierte den Galgen
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