Die Heilerin von Lübeck
Ich merke ganz gut, wo Gefahr droht und wo nicht.«
Taleke hatte wie üblich Vorwürfe erwartet, als sie von ihrer ersten eigenen Geburt nach Hause kam, aber sie hatte sich gründlich geirrt.
Vielmehr war der Tisch gedeckt. Auf den Holzbrettern lagen Pasteten, die noch warm waren, und ihre sauber ausgewaschenen Becher standen bereit.
»Hast du eine Prüfung bestanden?«, fragte Taleke unsicher.
»Nein, die steht noch lange nicht an, erst nächstes Jahr.« Nicolaus wirbelte herum, holte den Weinschlauch, der in einem Kübel mit Wasser kühlte, und goss ein. »Ich finde einfach, dass heute ein Tag ist, den man genießen sollte.«
»Solche Tage sollte es öfter geben«, stimmte Taleke lächelnd zu.
»Da hast du recht. Ich bin zuweilen etwas heftig zu dir, und hinterher ärgere ich mich selber darüber.«
»Soll das eine Entschuldigung sein?«
Nicolaus hob mit unschuldigem Gesicht die Schultern. »Weiß nicht.«
Taleke beugte sich vor und zauste ihm das Haar, was sich gegenüber einem künftigen Mitglied des Lübecker Stadtrates gewiss nicht gehörte, aber dass er es gestattete, ließ sie ihn milder beurteilen.
»Stell dir vor«, sagte er kurze Zeit später mit funkelnden Augen, »in Saint-Marcel am Fluss Bièvre, der so infernalisch stinken soll, gibt es Fälle von Blattern. Die Strafe des Herrn. Wer weiß, was dort vorgefallen ist, dass Er so hart durchgreifen muss.«
»Ich glaube das nicht …« Taleke zögerte, aber dann entschloss sie sich, Nicolaus wegen des erneuerten Vertrauens in ihn ihre geheimsten Gedanken zu offenbaren. »Razes widmet sein Buch zwar dem Herrn mit Worten, die wahrscheinlich in seinem Land üblich sind: Im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gnädigen. Aber danach beschreibt er die Blattern als eine Krankheit, die eine Ursache hat und behandelt werden kann wie ein gebrochenes Bein. Findest du es nicht merkwürdig, dass sie bei uns eine Strafe des Herrn sein sollen, gegen die kein Mensch aufzumucken wagt? Und wie macht unser allmächtiger Herr im Himmel das überhaupt? Holt er in Razes’ Krankenhäusern die Blattern ab? Oder schickt er seine Engel danach?«
»Das ist Häresie, Taleke!«, stammelte Nicolaus entsetzt.
»Nenn es, wie du willst. Dein eigener Lehrherr verlangt von dir, dass du lauter Bücher liest, in denen von Krankheitsursachen die Rede ist und wie man sie ausschalten kann. Gott kommt darin nicht vor.«
»Ja, eben. Hoffentlich straft Er uns nicht dafür.«
»Wie meinst du das?«
»Ach, nichts. Vielleicht hast du recht. Erzähl mir Genaueres darüber.«
»Über die Blatternbehandlung des Razes? Er handelt außer den Blattern bei Erwachsenen auch Kinderblattern ab, wie man sie erkennt und wie man als Arzt verhindert, dass sich Narben bilden. Von diesen Blattern unterscheidet er die Kinderflecken …«
Nicolaus winkte gelangweilt ab. »Als Chirurg werde ich Blattern nie behandeln. Nur das Stechen interessiert mich, denn es gehört zu meinem Handwerk.«
»Die Abhandlung über das Peststechen habe ich dir doch schon vorgelesen«, widersprach Taleke erstaunt.
»Dann lies sie mir noch mal vor«, befahl Nicolaus barsch wie immer.
Widerspruch konnte er nicht leiden. Taleke wagte noch nicht einmal zu fragen, warum er so gute Laune hatte.
Zwei Wochen später huschte am späten Abend eine schmale Gestalt die Stiege zu Taleke hoch. Im Zimmer angekommen, schlug sie die Kapuze zurück und erblickte als Erstes Nicolaus, worauf ihre Schultern zu beben begannen. Sie sah ihn mit großen Augen an, brachte aber kein Wort heraus und wagte keinen Schritt zurück.
»Nicolaus, würdest du wohl in die Taverne gehen? Bleib einige Zeit dort, bevor du zurückkehrst«, bat Taleke geistesgegenwärtig.
Nicolaus nickte mürrisch und ergriff den geleerten Krug, um ihn mitzunehmen. Seitdem Taleke ihren eigenen und einen Teil seines Lebensunterhalts verdiente, behandelte er sie meistens weniger roh, und sie wagte eher, ihre Wünsche zu äußern.
»Bitte«, flüsterte das junge Mädchen, kaum dass Nicolaus zur Tür hinaus war, »sagt mir, seid Ihr die Meisterin Taleke?«
»Ja, gewiss. Setzt Euch nur. Habt Ihr auch einen Namen?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Hände zitterten. »Wisst Ihr Hilfe, damit ein Mann die Frau, die er heiratet, für eine Jungfrau hält?«
Taleke schnappte nach Luft. Um sicher zu sein, dass sie alles richtig verstanden hatte, kleidete sie das ungewöhnliche Begehren in eigene Worte. »Jemand aus Eurer Bekanntschaft hat sich einem Mann hingegeben,
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