Die Heilerin von Lübeck
nicht. Die Hustenmischung, die ich ihr empfohlen habe, hilft für gewöhnlich gut.«
»Krank sah sie eigentlich nicht aus. Eher verschreckt wie ein schuldig gesprochener Kaufherr auf dem Richtstuhl, bevor das Schwert ihn berührt.«
Taleke ballte die Fäuste hinter ihrem Rücken und presste die Kiefer zusammen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie zitterte. Nicolaus war mit wenigen Sätzen der Wahrheit so nahe gekommen, dass es jetzt schon fast unmöglich schien, das Geheimnis zu bewahren. Aber für einen Rückzieher war es zu spät, und sie wollte ihn auch nicht machen. Die Sache würde ihren Lauf nehmen.
Kapitel 17
Gleich nachdem Nicolaus am nächsten Morgen das Haus verlassen hatte, um bei einem Jungen, dessen Arm durch einen Hundebiss verletzt worden war, den Verband zu wechseln, machte sich Taleke auf den Weg zu Maître Josse.
Sie hatte, trotz des festen Willens, Isabelle zu helfen, wenn es nur irgend ging, Angst vor dem, was alles passieren konnte. Gekleidet in einen durchlöcherten alten Rock und einen tief in die Stirn gezogenen schwarzen Umhang versuchte sie, sich so unscheinbar und unkenntlich wie möglich zu machen. Wie sie es bei den ganz verwahrlosten Jammergestalten gesehen hatte, schlurfte sie dicht an den Hausmauern entlang und hob kaum einmal den Kopf.
Die Entgegenkommenden wichen ihr in weitem Bogen aus, um sich nicht plötzlich einer Bettelschale gegenüberzusehen. Taleke war dafür sehr dankbar, während sie mit wachen Sinnen nach allen Seiten witterte.
Flink wie eine Maus schlüpfte sie in Maître Josses Haus. Gottlob war er zu Hause und hatte offenbar noch nichts getrunken. Er wunderte sich über ihre Verkleidung, machte dazu aber keine Bemerkung, was in Talekes Augen seine Klugheit bestätigte. »Was führt Euch her?«, fragte er besorgt.
»Ein vierzehnjähriges, hochadeliges Mädchen braucht die Hilfe eines Chirurgen.«
»Welcher Art?«
»Trota, Kapitel fünfzehn.«
»Der Herr im Himmel bewahre mich vor solchem Ansinnen«, stieß Josse entsetzt hervor und hob seine gefalteten Hände Richtung Zimmerdecke. »Dieser Weg, einmal eingeschlagen, führt geradewegs zum Galgen auf dem Place de Grève. Für alle Beteiligten! Ich war bereits auf halber Höhe, meine Liebe. Nicht noch mal!«
»Ich dachte es mir schon«, murmelte Taleke entschuldigend und wollte aufbrechen. »Es tut mir leid. Ich hoffte …«
»Ihr habt also besonderes Mitleid mit der Kleinen!«, schnaubte der Chirurg und hielt sie mit einer Handbewegung auf. »Auch das konnte man sich denken! Lübeckerin, die Ihr seid! Zuweilen ohne praktische Vernunft! Um wen handelt es sich denn?«
»Um Isabelle de Rohan.«
Josse schloss die Kiefer mit hörbarem Geräusch und schwieg eine Weile beredt. »Olivier de Rohan ist ein grausamer Mann.«
»Isabelles Vater?«
»Ja. Er steht König Philipp in nichts nach, wenn es darum geht, seine Ziele zu erreichen. Er wird die kleine Isabelle vom Erdboden verschwinden lassen, wenn sie seine Ziele durchkreuzt. Auch die Mutter würde ihr nicht helfen können, wenn sie sich ihr anvertraute.«
»Das hat sie auch gesagt.«
»Wen soll sie heiraten?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nun ja, es kann sich nur um einen engen Verwandten des Königs handeln. Philipps Rache wäre der ganzen Familie de Rohan sicher, wenn seiner Verwandtschaft eine junge Frau untergeschoben würde, die nicht mehr Jungfrau ist. Er würde es als persönliche Beleidigung erachten.«
»Isabelle ist sich sämtlicher Konsequenzen bewusst. Sie ist kein Schafskopf.«
Josse seufzte. »Was bedeutet dagegen schon unser beider Leben?«
»So gefährlich?«
»Ja.«
»Wolltet Ihr jetzt andeuten, dass Ihr trotzdem bereit seid, den Eingriff vorzunehmen?«
»Lasst mich ein wenig Atem holen. Ein solches Begehren ist selten.«
»Und ergeht deshalb an den besten Chirurgen des Reiches.«
»Und nicht ohne Reiz. Aber Ihr ahnt nicht, was mir ein ähnlich delikater Antrag einmal eingebracht hat.«
»Eure Schwester hat es mir erzählt.«
Maître Josse brach in gequältes Lachen aus. »Adaliz ist genauso unmöglich wie …«
»Ihr selber?«, ergänzte Taleke.
»Nun ja, kann sein. Dem Reich würde es gut anstehen, diesen Lumpen Olivier de Rohan durch den Zorn des Königs zu verlieren. Aber dafür kann man nicht sein liebreizendes Töchterchen opfern.«
»Ihr wagt es?«
»Ich wage es. Aber nur, wenn sich das Mädchen sklavisch an die Anweisungen hält, die ich ihm geben werde. Ich denke nicht, dass sie die Arbeitsweise der
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