Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
sie davon, ihre Kleider für ihn abzulegen. Manchmal war er in ihren Gedanken bei ihr, wenn sie sich entkleidete, griff nach ihren Schals und Schleiern, wirbelte sie herum wie ein Derwisch und wickelte sie aus dem dünnen Stoff, bis sie benommen und völlig nackt vor ihm stand.
Jedes Mal erwachte sie mit brennenden Wangen und kniete sofort nieder, um zu beten, aber kein Gebet der Welt konnte sie von ihrem Verlangen befreien. Zum ersten Mal verstand sie den Impuls, der ihre Mutter bewogen hatte, mit ihrem Vater in die Nacht hinauszureiten. Aber sie war keine venezianische Prinzessin, sie konnte nicht einen ungläubigen Schiffskapitän mit einem Wink ihres weißen Handschuhs quer durch einen Ballsaal zu sich locken. Sie musste warten, bis er ihr ein Zeichen gab.
Und eines Abends tat er es.
Sie saßen wie immer zu beiden Seiten des Feuers. Feyra betrachtete einen Holzschnitt von Andreas Vesalius und versuchte aus der lateinischen Schrift schlau zu werden, als Annibale das Wort ergriff. Er schlug einen bedächtigen Tonfall an.
»Das Trianni-Mädchen, die Mutter des kleinen Annibale … sagtest du nicht, sie wäre wieder schwanger?«
Feyra ließ den Holzschnitt sinken. »Ja. Das Kind kommt im Frühjahr.«
»Sie sollten in ein eigenes Haus ziehen. Inzwischen wohnen zu viele Menschen in dieser Hütte.«
Sie blieb stumm.
»Das ist gesundheitsschädlich, würde dein Freund Palladio sagen.«
Feyra wartete.
Er beugte sich über das Feuer, war ihr plötzlich sehr nah. »Dein Haus«, sagte er. »Vielleicht würdest du es gar nicht so ungern verlassen?«
»Es ist … sehr kalt dort«, murmelte sie.
»Das Dach ist undicht«, fügte er flüsternd hinzu.
»Es regnet Tag und Nacht hindurch«, flüsterte sie zurück, dabei empfand sie Gewissensbisse gegenüber dem armen Salve, der das Dach komplett abgedichtet hatte.
»Und dann die Kirchenglocken.«
»Sie wecken mich nachts jede Stunde.« Sie begann zu lächeln.
»Du solltest hier einziehen.«
Sie schwieg und wagte nicht zu atmen. Sie wollte ganz sicher sein. »Als deine Mätresse?«, wisperte sie.
Er störte sich nicht an ihrer Unverblümtheit. »Ja. Wirst du kommen?«
»Ja.«
30
Als Andrea Palladio die fünfzehn Stufen zu seiner Kirche auf Giudecca emporstieg, wurde seine Freude über den Anblick des wachsenden Bauwerks ein wenig von seiner eigenen Kurzatmigkeit getrübt.
Er hatte eine Erkältung gehabt, die ganze Woche gekeucht und nach Luft gerungen und ein Engegefühl in der Brust verspürt. Und er hatte das Haus vor Casons freitäglichem Besuch verlassen, da er wusste, dass der Arzt ihn für krank erklären würde, wenn er ihn zu fassen bekam. Palladio wollte aber mit seiner Arbeit fortfahren. Er hatte begonnen, sich damit abzufinden, dass diese Kirche sein letztes Bauwerk sein würde, und es sollte sein Vermächtnis werden.
Seine Unsterblichkeit und seine Sterblichkeit trafen auf den Stufen abrupt aufeinander. Das Pfeifen in seinen Lungen erinnerte ihn daran, dass er neunundsechzig war. Dafür konnte er nicht länger die Jahrzehnte verantwortlich machen, während derer er Steinstaub ein- und nicht vollständig wieder ausgeatmet hatte. Er wurde alt.
Zabato schob seinen struppigen Kopf aus der Türöffnung heraus. »Herr, können wir weitermachen? Das Licht wird schwächer.«
Auf der letzten Stufe wurde Palladio von einem plötzlichen, stechenden Schmerz überwältigt. Er stolperte und erstarrte, und ihm war mit einem Mal eiskalt. Es fühlte sich an, als würde eine himmlische Hand sein Herz zusammendrücken, das wie ein in einer Schlinge gefangenes Kaninchen zappelte. Das Licht erlischt, dachte er voller Panik, und ich ebenfalls. Der Herr würde doch Seinen Baumeister sicher nicht zu sich rufen, bevor dieser seinen Vertrag erfüllt hatte?
Im nächsten Moment war der Schmerz verflogen, und Palladio konnte weitergehen und tief und erleichtert Atem holen. Zabato vor ihm hatte nichts bemerkt. Als Palladio unter dem großen Türsturz hindurchschritt, beruhigte sich sein Herzschlag wieder, aber er fühlte sich immer noch schwach und verschwitzt. Er hatte unlängst festgestellt, dass er häufiger zu Gott sprach, seit er Ihm eine Kirche baute. Es war kein spiritueller Dialog, nur ein Gespräch von der Art, wie er es mit jedem großen Herrn führte, für den er ein Gebäude errichtete. Er hatte Hunderte solcher Diskussionen mit seinen Freunden, den Brüdern Barbaro, gehabt, als er ihre große Villa in Maser gebaut hatte, und er sah nicht ein, warum er es mit dem
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