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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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»Meine Mutter war auch nicht besser«, gestand sie ihm und auch sich selbst ein.
    Er stieß einen zischenden Seufzer aus, der mit dem Prasseln des Feuers wetteiferte. »Kinder von Dirnen, in Sünde geboren«, erwiderte er heftig.
    Die barschen Worte schockierten Feyra, aber sie fand, dass sie es ihrer Mutter und ihrem Vater schuldig war, ihre Beziehung zu rechtfertigen.
    »Vielleicht ist es keine so große Sünde, wenn Liebe im Spiel ist.« Sie wählte ihre Worte sehr sorgfältig und blickte dabei auf ihre Hände im Schoß hinab, daher sah sie nicht, dass in seinen Augen ein kleiner Funke aufglomm.
    Was sie gesagt hatte, gab Annibale neue Hoffnung.
    Natürlich stritten sie auch miteinander und vertraten oft völlig gegensätzliche Meinungen, was die medizinische Praxis anbelangte. Diese Auseinandersetzungen genossen sie beide ebenso sehr – wenn nicht noch mehr – als die Punkte, in denen sie übereinstimmten. Aber diese Diskussionen glitten nie ins Persönliche ab und waren schnell vergessen.
    Einer ihrer heftigsten Streitpunkte war die osmanische Praxis der Variolation. Feyra wies darauf hin, dass die Zufuhr einer kleinen Menge infizierten Blutes oder verseuchten Gewebes bei einem gesunden Patienten fast immer die teilweise oder völlige Immunität gegen diese Krankheit zur Folge hatte, vor allem bei den Pocken. Sie beschrieb, wie Haji Musa einmal vier Adern an der Stirn und der Brust eines kleinen Jungen geöffnet und eine kleine Dosis Schleim von einem Pockenpatienten in die Wunden gegeben hatte. Der Junge war zu einem gesunden Mann herangewachsen, obwohl sich alle anderen Mitglieder seiner Familie die Krankheit zugezogen hatten.
    Annibale hielt dagegen, dass die katholische Kirche diese Praxis aus gutem Grund verboten hatte: weil ebenso viele Menschen daran starben, wie durch sie gerettet wurden. Er zwang Feyra, zuzugeben, dass in manchen Fällen die geimpften Patienten an genau der Krankheit starben, die die Ärzte verhindern wollten. Sie kehrten immer wieder zu dem Thema zurück und gelangten nie zu einer Einigung. Die Auseinandersetzungen endeten stets auf dieselbe Weise. »Mohammed sagt, Gott schafft in dieser Welt keine Krankheit, wenn er nicht auch ein Heilmittel dafür bereitstellt«, gab Feyra zu bedenken. »Könnte dieses Heilmittel nicht in der Krankheit zu finden sein?«
    Annibale pflegte dann den Kopf zu schütteln. »Lass mich zur Antwort auf Mohammed Maimonides zitieren, der bemerkt hat, der perfekte Arzt wäre der, der es für besser erachtet, Gesunde in Ruhe zu lassen, als ein Mittel zu verschreiben, das schlimmer ist als die Krankheit.«
    Die zweite erbitterte Diskussion kreiste um die Frage, ob Patienten für Arzneien zahlen sollten oder nicht. Annibale verabscheute diese Praxis und berief sich auf Valnetti und die anderen Wucherer, die vom Elend der Menschen profitierten. Er führte den Ärztekodex an, der besagte, dass Ärzte für ihr Geld arbeiten und ihre Kosten decken, sich aber nicht unmäßig am Verkauf ihrer Mittel bereichern sollten.
    Feyra dachte pragmatischer. »Aber was, wenn ein Arzt sich durch den Verkauf seiner Arzneien das nötige Geld verschaffen kann, um seine Patienten besser zu versorgen?«
    »Ich finanziere dieses Krankenhaus«, versetzte Annibale scharf. »Ich verfüge über ausreichende Mittel und brauche nicht noch mehr Geld.«
    Was nicht ganz der Wahrheit entsprach.
    Als das Krankenhaus ein Jahr lang bestand, war der Cason-Schatz, den er schon lange aus der Erde bei dem Brunnen ausgegraben und unter den Dielenbrettern unter seinem Bett versteckt hatte, beängstigend schnell dahingeschmolzen. Nach seinem letzten Gespräch mit Feyra stieg Annibale die Stufen hoch und hob das Brett an.
    Er stellte die Schatulle auf seine Knie und schob den kleinen Schlüssel von der Kette an seinem Hals in das Schloss. Dann ließ er das restliche Gold durch die Hände gleiten, spürte die kalten Metallscheiben zwischen den Fingern. Jetzt bedeckte nur noch eine dünne Goldschicht den Boden des Kastens. Er schätzte, dass die Münzen bis zum Michaelstag reichen würden, nicht länger. Er klappte den Deckel zu und begrub die Schatulle zusammen mit seinen Sorgen wieder unter den Dielenbrettern.
    Feyra veränderte sich.
    Annibale war der erste Mann, den sie je getroffen hatte, den sie nicht auf Abstand halten wollte. Wenn sie mit ihm zusammen war, empfand sie die Stoffschichten, unter denen sie wie das empfindliche weiße Herz einer Artischocke lebte, nur noch als störend. Nachts träumte

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