Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
… nicht erst danach, sondern schon vorher.«
Er zwinkerte, weil seine Augen vom Feuer brannten, und versuchte zu begreifen, was sie ihm sagen wollte. »Du meinst, als mein Vater dich kennenlernte …«
»Ja. Ich habe mein Gewerbe in der Nähe des Campo d’Oro betrieben. Du wurdest im Karneval in einer Gondel gezeugt. Als ich merkte, dass ich schwanger war, sagte Carlo, er würde mich heiraten. Ich war so schön damals, das kannst du dir nicht vorstellen.«
Das konnte er in der Tat nicht. Für ihn war nur eine Frau schön, und außerdem bestand Schönheit für ihn nicht in der Maske, die ein Mensch trug, sondern in der Person darunter. Er betrachtete die Maske seiner Mutter, die neben seinem Schnabel am Feuerhaken hing, eine unheilige Verbindung von Kurtisane und Vogel. Ein makelloses, bemaltes Gesicht starrte ihn aus der Vergangenheit seiner Mutter an.
Er erfuhr, dass sie, nachdem sie ihn und seinen Vater verlassen hatte, mit ihrem neuen Liebhaber in eine der großen Villen in Venetien gezogen war. Nachdem sie herausgefunden hatte, dass ihr Gönner sich nebenbei auch noch mit den beiden Küchenmädchen vergnügte, war sie mit dem Maler, von dem die Fresken in der Villa stammten, nach Rom gegangen. Dort war sie die Mätresse eines Priesters geworden, bevor sie mit einem seiner Messdiener nach Messina durchbrannte.
Nach einer Weile hörte Annibale nicht mehr zu, sondern reimte sich stattdessen eine andere Wahrheit zusammen. In ihrer Jugend war sie schön genug gewesen, um trotz ihres niedrigen Standes einen unbedeutenderen venezianischen Edelmann zu betören. Er vermutete, dass es sich bei ihrem letzten Liebhaber, dem Kaufmann, in Wirklichkeit um einen Straßenhändler mit einem Stand auf dem Markt in Treporti handelte. Mit dem Dahinschwinden ihrer Schönheit war auch ihr Kundenkreis immer armseliger geworden, und geblieben war nur ihr schlechter Charakter, der verhinderte, dass sie im Herbst ihres Lebens einen Gefährten dauerhaft an sich binden konnte. Endlich konnte er die jammervolle Geschichte nicht länger ertragen, er schlief auf seinem Stuhl ein und wurde prompt von kummervollen Träumen geplagt. Am Morgen waren seine Weinflaschen leer und rollten vor seinen Füßen herum, das Feuer war erloschen, und seine Mutter schnarchte auf der Pritsche am Feuer, die er so liebevoll für Feyra hergerichtet hatte.
Er ließ sie dort liegen.
Annibales Abende verliefen nun ganz anders als zuvor. Statt mit Feyra medizinische Diskussionen zu führen, die ihm das Gefühl verliehen, den Tod besiegen und die ganze Welt heilen zu können, musste er sich die Geschichten seiner Mutter von gesellschaftlicher Schande und sozialem Abstieg und ihre Klagen um ihre verlorene Jugend anhören. Annibale fühlte sich mit einem Mal furchtbar einsam, obwohl er ständig mit seiner Mutter zusammen war. Er war isoliert und dennoch körperlich nicht mehr so oft berührt worden, seit Columbina ihn als Kind verlassen hatte. Ihre Zärtlichkeiten waren in dieser Zeit stecken geblieben und von der Erinnerung verklärt. Sie ging mit ihm um, als wäre er noch ein achtjähriger Junge. Sie zauste sein Haar, zwickte ihn in die Wangen, kitzelte seinen Nacken und rieb ihm den Rücken, wie sie es, wenn sie denn da gewesen wäre, vielleicht getan hätte, wenn er krank war. Er brachte es nicht fertig, sie wegzustoßen, doch ihre Umarmungen verursachten ihm Übelkeit, da sie ein groteskes Zerrbild der Liebe waren, die er bei einer anderen zu finden gehofft hatte. Außerdem hatte er seiner Mutter sein Bett in der oberen Kammer überlassen, sodass er als zusätzliche Qual in dem Bett schlafen musste, das für Feyra bestimmt gewesen war.
Annibale riet Columbina, stets eine Maske zu tragen. An die Maske, die sie bei sich hatte und die das ganze Gesicht bedeckte und mit einer Schnur am Hinterkopf befestigt wurde, meinte er sich aus seiner Kindheit her zu erinnern. Sie zeigte ein schönes, geschminktes Kurtisanengesicht, weiß wie Bleipaste, mit einem perligen Schimmer, kirschroten Lippen und roten Flecken auf den Wangen. Sie verlieh ihr den gespenstischen, leeren Abglanz einer Schönheit, die sie nicht länger besaß. Ihre Kleider saßen schlecht, und die leuchtenden Farben hätten zu einer jugendlichen Erscheinung besser gepasst. Sogar ihr Name wirkte jetzt zu jung für sie. Columbina Cason war ein Name für eine Kokotte oder eine frische, kapriziöse Schöne. Diese Zeit lag längst hinter ihr.
Auch sonst trug Columbina Cason eine Maske. Sie besuchte jede
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