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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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besseren Tagen stützte er sich auf die Ellbogen und wies Zabato Zabatini an, seine neuesten Ideen zu Papier zu bringen. Manchmal verstieg er sich zu Fantasien, die nie verwirklicht werden konnten, weil sie nur von Träumen und nicht von Stein und Mörtel getragen wurden.Wenn er von seiner Liege aus diese architektonischen Kapriolen hinausschnatterte, konnte er sehen, dass Zabato mit dem Zeichnen innehielt. Dann nahm der Zeichner seine Brille ab, legte sie beiseite und wischte sich über die Augen, und Palladio wunderte sich, warum er weinte.
    Heute war kein guter Tag. Der Architekt vermochte kaum den Kopf zu heben. Ihm war, als würde ein schweres Gewicht auf seiner Brust lasten. Er kannte den Namen dieses Gewichts. Er lautete Tod, und es wog jeden Tag schwerer.
    Die niedrig stehende Sonne ließ seine Augen schmerzen, daher verspürte er Erleichterung, als zwei Gestalten vor seinem Fenster auftauchten und das Licht ausblendeten. Sie schienen genau gleich gekleidet zu sein, trugen weite Gewänder und Turbane, doch bei einer handelte es sich um einen Mann und bei der anderen um eine Frau. Da er meinte, er würde träumen, schadete es nichts, ihnen zuzulächeln, auch wenn es Ungläubige waren. Der Druck auf seine Brust ließ nach.
    Die Frau streckte ihm die Hand hin wie er einst ihr. »Komm und sieh«, sagte sie.
    Als sie im Boot saßen, konnte er die beiden deutlicher sehen. Keiner von ihnen hatte das Gesicht verhüllt, wie man es hätte erwarten können. Beide waren attraktiv, dunkelhaarig, gebräunt und genau gleich groß. Sie hätten Bruder und Schwester sein können, wenn nicht sogar er mit seinen alten Augen gesehen hätte, dass sie sich liebten. Sie tauschten keine Zärtlichkeiten aus, saßen noch nicht einmal so dicht beieinander, dass sich ihre Ärmel berührten, und dennoch wirkten sie so intim miteinander vertraut wie damals, als er sie eng umschlungen auf einem Bett vorgefunden hatte. Inzwischen hatte er sie wiedererkannt. Sie waren beide Ärzte, und sie betrieben das Krankenhaus, das er gebaut hatte.
    Sie näherten sich dem Zatteresund und der Insel Giudecca.
    »Seht«, sagte der Arzt. »Sie haben eine Brücke gebaut.«
    Palladio beobachtete die große Prozession, während das Boot auf die Insel zuglitt. Aus zusammengebundenen Holzflößen war eine Brücke entstanden, über die die Einwohner von Zattere zu Fuß zu seiner Kirche gehen konnten.
    Und sie kamen zu Hunderten.
    Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind hielt eine Kerze in der Hand, sodass sich eine Schlange schimmernden Feuers über den Kanal und die Insel und die Stufen zur Kirche emporwand.
    Palladio hörte einen monotonen Gesang, der zu einem einzigen Wort anschwoll. Es hallte über das Wasser, doch sein Gehör hatte im Alter gelitten. »Was singen sie?«, fragte er.
    »Redentore«, erwiderte der Arzt. »So nennen sie die Kirche jetzt. Nur Redentore. Der Erlöser.« Er lächelte seine Partnerin an, als hätte das Wort eine besondere Bedeutung für sie. »Sie danken Gott, dass er sie vor der Pest gerettet hat – welcher Gott auch immer es war. Sie sind angewiesen, das jedes Jahr zu tun.«
    »Jedes Jahr? Wie lange denn?«
    »Für immer.«
    Palladio spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.
    Die drei stiegen bei den großen Stufen aus und schlossen sich der Prozession an. Gemeinsam erklommen sie die fünfzehn Steinstufen. Palladio ging zwischen den beiden Ärzten, die ihn bei den Armen gefasst hatten, um ihn zu stützen. Der Architekt wurde in der Menge gar nicht bemerkt, und es fielen auch keine Bemerkungen über die beiden Ärzte, obwohl sie Turbane trugen. Nachdem die Pest vorüber war, hatten Ärzte ihre Schnäbel mit einem biretta -Tuch vertauscht, das um den Kopf gewickelt wurde. Und in einer seltsamen Modekapriole war seit dem osmanischen Konflikt der türkische Stil bei den Venezianern sehr beliebt.
    Die beiden Ärzte blieben bei der Tür stehen, und Palladio drehte sich verwirrt zu ihnen um.
    »Kommt ihr nicht mit?«
    Feyra lächelte. »Ein Mal war genug.«
    Annibale schüttelte den Kopf. »Dies ist Eure Kirche, aber nicht unsere.«
    Palladio hob die Brauen.
    Zur Antwort öffnete Annibale sein Gewand. Er trug einen Anhänger in Form eines Muselmano -Halbmondes. Feyra tat es ihm nach, sie trug den Zwillingsanhänger. Palladio betrachtete sie. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich bei den Anhängern um zwei Hälften eines Rings, eines Glasrings mit irgendeiner Verzierung. Annibale trug den östlichen Halbkreis, Feyra den

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