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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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Gelegenheiten bekam Annibale seinen hochrangigen Patienten nie zu Gesicht, denn er ließ die beiden Veniers alleine, damit diese die Beziehung zueinander aufbauen konnten, die die Umstände ihnen bislang verwehrt hatten. Während sie sich unterhielten, schlenderte Annibale auf Giudecca umher und blickte im Vorübergehen immer zu Palladios Kirche auf, ohne sie je zu betreten.
    Er hatte einen bestimmten Grund dafür.
    Während seiner Genesung hatten Annibale und Feyra eines Tages, als er wieder kräftig genug war, um rund um die Rasenfläche zu spazieren, beim Brunnen Halt gemacht, um sich auszuruhen. Während sie die Sommersonne genossen, streichelte Feyra die steinerne Mähne des Löwen. »Danke«, sagte sie ruhig.
    Annibale musterte sie forschend. »Du sagst, es wäre ein Wunder, dass ich wieder gesund geworden bin«, bemerkte er. »Aber wie erklärst du dir die Brunnenwunder?«
    »Die Brunnenwunder?«
    »Zahllose Pilger, die Wasser aus den heiligen Brunnen wie dem des alten Klosters Santa Croce holen, schwören, dass dieses Wasser sie vor der Pest schützt. Wie erklärst du dir das?«
    Feyra dachte an den Brunnen, in dem ihr Vater jetzt auf ewig unter einem schwarzen Marmorstern im Boden von Palladios Kirche ruhte. Sie spürte, wie Annibales Blick sie durchbohrte. »Ich glaube«, erwiderte sie bedächtig, »dass das Wasser beim letzten Ausbruch der Pest verseucht wurde. Dass eine Ratte, ein Kaninchen, ein Hund oder sonst irgendetwas hineingefallen ist. Irgendein infiziertes Lebewesen.«
    »Und dieses Mal?«
    Sie vermochte ihm nicht in die Augen zu sehen. »Dieses Mal weiß ich, dass es so war.«
    »Warum sterben die Pilger dann nicht an dem Wasser?«, bohrte er weiter.
    Als sie nichts darauf erwiderte, griff er nach ihrer Hand. »Also war meine Heilung wirklich ein Wunder?«
    Sie lächelte in den Brunnen. »Ja.«
    »Hast du mir etwas von deinem Trank, deinem Theriaca, gegeben, als ich todkrank war?«
    Sie spähte tiefer in den Schacht, suchte nach dem Lichtkreis des Wassers. »Nein.« Dann sah sie ihn an. Seine Kraft nahm täglich zu, die Höhlungen in seinen Wangen und unter seinen Augen füllten sich, die Sonne verwandelte seine kränkliche Blässe in eine gesunde Bräune. »Weißt du auch, warum nicht?«
    »Lass mich meine Erkenntnisse zusammenfassen.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Du hast die Pest überlebt, dein Vater aber nicht. Durch deine Versuche hast du herausgefunden, dass die Patienten im Tezon, bei denen die Pest voll ausgebrochen war, trotzdem gestorben sind, in den Familien, denen du die Arznei verabreicht hast, aber keine neuen Fälle aufgetreten sind. Also leerte sich das Tezon, und die Familien kehrten nach Hause zurück. Dem Sohn des Torhüters hast du den Trank gegeben, nicht aber Bocca selbst. Du hast dem Architekten eine Phiole gegeben, mir aber nicht, und jetzt meinst du, es könnte ein infiziertes Lebewesen, vielleicht sogar der Leichnam eines Opfers, in den Brunnen des heiligen Sebastian gelangt sein.«
    Sie wagte kaum zu atmen, geschweige denn, ihn anzusehen. Stattdessen starrte sie weiterhin in den Brunnen. »Und was schließt du daraus?«
    Er drehte sie zu sich. »Du hast Variolation praktiziert. Du hast die Patienten gegen die Seuche geimpft.«
    Jetzt hielt sie dem Blick seiner grünen Augen unverwandt stand. »Und du hast nichts dagegen? Wir hatten einen Streit deswegen, falls du dich noch daran erinnerst.«
    »Eine Diskussion«, berichtigte Annibale sie lächelnd.
    »Einen Streit«, beharrte sie, erwiderte sein Lächeln aber.
    »Ich nehme an, du hast dem Theriaca eine geringe Menge einer infizierten organischen Substanz beigefügt.«
    »Ja.«
    »Und der Rest der Zutaten?«
    »Wird dich weder umbringen noch heilen«, zitierte sie einen seiner Lieblingssprüche.
    »Hast du für den entscheidenden Bestandteil Blut oder Eiter aus den Beulen genommen?«
    »Getrockneten und gemahlenen Eiter.«
    »Von deinem Vater?«
    Das Lächeln erstarb, und er sah, dass sie einen Moment lang unfähig war, einen Ton hervorzubringen.
    »Er war der Leichnam in dem Brunnen.« Es war keine Frage, und er wechselte das Thema. »Dein Instinkt hat dich nicht getrogen«, stellte er sanft fest. »Ich glaube, um Immunität zu erzielen, muss die Probe einer der Primärinfektion möglichst nahen Quelle entnommen werden.« Er blickte auf das Meer hinaus, gen Osten. »Dein Vater hat die Seuche hier eingeschleppt – vielleicht hat er auch gleich das Heilmittel mitgebracht.« Er warf ihr einen Seitenblick

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