Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
ehe er sie finden konnte, hatte Feyra schon in ihr Mieder gegriffen und eine Münze hervorgezogen, die sie auf den Tisch legte, wo sie im Licht blinkte.
Annibale erfuhr nie, wo sie ihn herhatte, aber es war ein einzelner goldener Dukaten.
Epilog
Konstantinopel
Drei Jahre später
In der Stille des Topkapi-Palasts betrachtete Doktor Haji Musa den Kasten, der ihm geschickt worden war.
Das Löwensiegel und der Geruch nach Myrten verrieten ihm, dass er aus Venedig stammte. In der Republik wurde es mit der Quarantäne und der Desinfektion von Frachtgütern sehr genau genommen, das wusste er.
Dennoch wies der Arzt einen Sklaven an, den Kasten für ihn zu öffnen, und befahl dem Eunuchen, ihn vorsichtig weit weg von den Gemächern des Sultans zu tragen, um ganz sicher zu sein. Die Venezianer waren dafür bekannt, Schießpulver mit einer Klammer, die beim Öffnen Funken schlug und eine Explosion auslöste, oder Giftschlangen und gar Skorpione zum Palast zu schicken. Es war Mittag, und der Palast flirrte vor Hitze, also trug der Eunuch die Kiste in den Garten der Lilien, wo ein Springbrunnen sprudelte und es schattig und kühl war.
Er stellte den Kasten auf den Boden, öffnete die Verschlüsse und hob behutsam den Deckel an. Lange Zeit herrschte Stille, Haji Musa konnte nur das Plätschern des Wassers hören. »Was enthält er?«, fragte er aus sicherer Entfernung ungeduldig.
Der Eunuch wirkte verwirrt. »Knochen«, sagte er.
Der Arzt kam näher und spähte in den Kasten. Dann schickte er den Sklaven weg, kniete sich in seinem zinnoberroten Gewand auf den Boden und wickelte die Gebeine selbst aus. Es war das vollständige Skelett eines jungen Mannes. Jeder Knochen war peinlich genau nummeriert und katalogisiert, jeder mit einer kleinen, beschrifteten Pergamentrolle umwickelt. Alle Knochen waren da, zusammen über zweihundert, von den Zehengliedern über sämtliche Rückenwirbel bis hin zum Schädel.
Hier musste die Hand eines Arztes am Werk gewesen sein.
Haji Musa setzte das Skelett auf dem warmen Pflaster des Hofes zusammen, während über ihm die Falken kreischten, die um ihre Beute betrogen waren, da ihr Opfer schon lange tot war. Als er fertig war, erhob sich der alte Arzt mühsam und betrachtete den Mann. Der Schädel starrte ihn aus leeren Augenhöhlen an. Der Arzt warf einen Blick in den Kasten, wo er zwischen Brocken venezianischer Erde eine in osmanischer Schrift verfasste Notiz fand.
Dies sind die Gebeine von Takat Turan.
Er soll im Garten der Janitscharen begraben werden, denn er war einer der ihren.
Mir geht es gut.
Eure Schülerin
Feyra Adalet bint Timurhan Murad
Haji Musa drückte die Nachricht freudig an sein Herz und bückte sich erneut, um die Knochen einzusammeln. Der Schädel war voller Erde. Er klopfte damit wenig ehrfurchtsvoll auf das Pflaster, und etwas fiel klirrend heraus. Er säuberte den Gegenstand und hielt ihn ins Licht, denn seine Augen waren nicht mehr so gut wie früher. Dann blinzelte er verwirrt, weil er sich nicht erklären konnte, was diese Beigabe zu bedeuten hatte.
Denn es handelte sich um ein christliches Kreuz.
Venedig
Palladio hatte den größten Teil des Nachmittags gedöst, wie er es dieser Tage meistens tat. Er hatte sich angewöhnt, auf der Liege unten in seinem studiolo zu schlummern, denn er konnte die Treppe kaum noch bewältigen. Außerdem lag er gerne dort, wo er seine Zeichnungen sehen konnte.
Manchmal fiel sein Blick auf den Leonardo, den vitruvianischen Mann, und er erinnerte sich an die Zeit, als er auf dem Höhepunkt seines Schaffens selbst mit ausgestreckten Fingerspitzen die Grenzen seiner eigenen Geometrie ausgelotet hatte. Manchmal betrachtete er seine Entwürfe für die neue Rialtobrücke, die er gewissenhaft auf Pergament festgehalten und jeden Winkel wunderschön dargestellt hatte. Er hatte seine Pläne termingerecht beim Rat der Zehn eingereicht, aber der Brücke war es bestimmt, nur in seinem Kopf zu existieren, denn den Auftrag für die neue Rialto hatte ein anderer erhalten. Der Architekt Antonio da Ponte war jünger als er und einst sein Schüler gewesen, was die Pille noch bitterer schmecken ließ.
Palladio tröstete sich mit dem Gedanken an seine Kirche. Er erinnerte sich verschwommen an eine Geschichte von einem Tempel im Osten, zu dem die Menschen Hunderte von Jahren lang gepilgert waren, um am Grab des Standartenträgers eines Propheten zu beten. Aber er hatte sowohl den Namen des Tempels als auch den des Erzählers vergessen.
An
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