Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
würde dieser Mann sich selbst in meinen Sarg legen, sich in meine Tücher hüllen, meine Ausdünstungen einatmen und das Gift selbst verbreiten.«
Feyra schwante etwas Furchtbares, und ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. »Also ist dieser Mann an Bord des Schiffes?«
»Ja. Und wenn er stirbt, wird ein anderer Soldat des Sultans seinen Platz einnehmen. Jeder Mann auf diesem Schiff hat einen Eid geleistet, die Seuche nach Venedig zu bringen. Wir sind alle verdammt, Mädchen. Auch du.«
Feyras Neugier war stärker als ihre Furcht. »Aber warum diese sinnlose Reihe von Opfern?«
»Der gute Doktor hat mir gesagt, dass zu Justinians Zeiten die Pest mit einem Ballen Seide aus Pelusium nach Konstantinopel gebracht wurde. Der Sultan hätte genauso vorgehen können, aber er wollte ganz sicher gehen. Der Arzt riet ihm, die Pest im Körper eines Kranken nach Venedig zu schicken, das sei der beste Weg. Als ich dir sagte, ich wäre der Tod, entsprach das der Wahrheit. Meinen wirklichen Namen kann ich dir nicht verraten, denn ich habe im Namen des Sultans, des Lichts meiner Augen und der Freude meines Herzens, ein Versprechen abgegeben. Die Quelle der Ansteckung muss geheim bleiben, egal ob der Plan gelingt oder nicht. Der Soldat sagte mir, wenn die Staaten der ungläubigen Christen je die Wahrheit erführen, wäre unsere Nation dem Untergang geweiht und es würde wie in alten Zeiten ein Kreuzzug gegen Konstantinopel geführt werden.«
Jetzt verstand Feyra, warum Haji Musa bei ihrem Abschied in der Halle des Reinigungsbrunnens so verängstigt gewesen war, dass er Nurbanus Hinscheiden kaum zur Kenntnis genommen hatte. Jetzt ergaben die Warnungen einen Sinn. Der Arzt, der einen Eid geleistet hatte, Leben zu retten, konnte einen so infamen Plan, dem Tausende von Menschen zum Opfer fallen würden, nicht gutheißen. Sie fasste ihr Entsetzen schließlich doch noch in Worte und konnte jetzt auch nicht mehr mit unbeteiligter Stimme sprechen. »Aber was ist mit den Menschen – den Bürgern von Venedig?«
»Was soll mit ihnen sein?«, scholl es zurück. »Der Arzt hatte recht, was mich betraf, ich war in Lepanto. Die venezianischen Ratten haben unsere Schiffe in Brand gesteckt. Ich habe sie verbrennen sehen, Mädchen. All diese Seeleute. Es war die Hölle auf Erden. Nein. Ich will tun, was ich tun werde. Ich freue mich darauf. Ich bin zufrieden.«
Während der nächsten beiden Tage kam Feyra wieder zu Kräften und begann zu glauben, dass ein Wunder geschehen war und sie sich irgendwie von dieser schlimmsten aller Krankheiten erholt hatte. Davon erzählte sie Tod aber nichts, denn sie wollte in ihm keine Hoffnung auf eine solche Heilung wecken. Ihre Freundschaft wuchs im Lauf dieser Tage, und nachts, wenn der Quartermeister gekommen und wieder gegangen war, zog sie den weißen Vorhang zurück und unterhielt sich mit Tod.
In stillschweigender Übereinkunft sprachen sie nie wieder von seiner Mission und dem Gift, das er in sich trug. Sie plauderten von der Heimat, von Orten und Dingen, die sie beide kannten – dem Basar, dem Jahrmarkt in Pera, der Bootswettfahrt auf dem Bosporus. Wenn er die Kraft dazu aufbrachte, erzählte er von seinen Reisen, und sie fühlte sich stark an ihren Vater erinnert. Sie fragte ihn auch unauffällig, ob er von einem schwarzen Fabelpferd oder einem Pferd anderer Farbe gehört hatte, aber das war nicht der Fall. Sie erkundigte sich sogar, ob er einen Mann namens Samstag vom Hörensagen kannte. Sie sprach das Wort türkisch und venezianisch aus, doch sie konnte hören, wie er beim Klang eines venezianischen Namens versuchte, den wenigen Speichel auszuspucken, den er im Mund zu sammeln vermochte; auf dem Musselin vor seinem Gesicht breitete sich ein kleiner dunkler Fleck aus, und sie bohrte nicht weiter.
Das einzige Thema, das sie nicht ansprach, war seine Familie. Sie wusste, dass er sterben würde, so oder so, und konnte es nicht ertragen zu erfahren, dass er eine Tochter hatte, die ihm vorsang, wenn sie in der Küche am Spinnrocken saß, oder einen Sohn, der Scherze machte, während sie ihren Ochsen zum Pflügen ins Joch spannten, oder eine Frau, die seinen Bart streichelte und ihn küsste, wenn er zum Morgengebet das Haus verließ. Sie versuchte nur, ihm seine letzten Tage so leicht wie möglich zu machen, denn sie konnte sich das Ausmaß des Horrors seiner Existenz kaum ausmalen – in seinen eigenen Ausscheidungen in dieser Kiste liegen zu müssen, während die Seuche an ihm fraß.
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