Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
sie in ihren Betten erwürgt und dann ihre Habseligkeiten gestohlen zu haben. Dafür wurden sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt, aber die Richter staunten darüber, dass die Diebe sich nicht angesteckt hatten. Die Übeltäter gaben zu, immun gegen die Pest zu sein, und gaben ihr geheimes Gegenmittel preis: einen Essig, der nach ihnen benannt wurde. Die Richter wollten die Zusammensetzung wissen und versprachen, sie im Gegenzug vor dem Feuer zu bewahren.«
»Was geschah mit ihnen?«
»Sie wurden gehängt«, erwiderte der Doktor knapp. »Aber das tut hier nichts zur Sache.«
»Nein. Nein, vermutlich nicht.« Annibales wissenschaftliches Interesse war geweckt. »Und wie lauteten die Zutaten?«
»Nehmt Eure Schreibtafel«, riet Valnetti wichtigtuerisch. »Vielleicht wollt Ihr die Liste schriftlich festhalten. Normalerweise würde ich ein solches Wissen nicht an einen anderen Arzt weitergeben, aber wenn wir in diesem sestiere eine niedrigere Sterblichkeitsrate erreichen wollen, als sie die anderen Ärzte erzielen können, müssen wir zusammenarbeiten, nicht wahr?« Er rückte näher an Annibale heran, zog einen Stapel Papiere aus seinem Ärmel, teilte ihn in zwei Hälften und gab Annibale eine davon. »Totenscheine«, sagte er. »Papierkram, fürchte ich. Für jede Seele, die wir verlieren, müsst Ihr einen Schein ausfüllen, auch für die Armen.« Er rümpfte die Nase. »Nur unter uns – abgesehen von unserer Belohnung von dem Dogen habe ich mit den anderen fünf Ärzten um ein Fass Gascogne-Wein gewettet, dass wir in San Marco weniger Patienten verlieren als in den anderen Stadtteilen. Und jetzt hört gut zu.«
Annibale steckte die Scheine gehorsam weg und zog sein Notizbuch und seinen Bleistift aus dem Ärmel, obwohl er bei sich dachte, dass es wenig gab, was sein Vorgesetzter ihm beibringen könnte. Ihm schien auch, dass Valnetti nichts an seinen Patienten lag – aber war er, Annibale, der sich gerne mit dem Tod maß, um zu beweisen, dass er der Bessere war, so anders? Verwirrt begann er zu schreiben, als Valnetti die Zutaten an seinen schwarz behandschuhten Fingern abzählte.
»Rosmarin und Salbei, Weinraute, Minze, Lavendel, Kalmuswurzel, Muskat. Und natürlich Knoblauch, Zimt und Nelken, die Heilige Dreifaltigkeit bei der Behandlung der meisten Krankheiten. Weißer Essig, Kampfer. Und die wirksamsten und teuersten Bestandteile von allen: Wermutkraut und Beifuß.«
»Artemisia absinthium und Artemisia pontica«, warf Annibale ein, den die vorherige Schmähung seiner Ausbildung getroffen hatte.
»Ihr weicht die Kräuter zehn Tage lang in Essig ein«, fuhr Valnetti fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »Dann presst Ihr alles durch ein Leinentuch. Habt Ihr das?«
»Ja, ja«, log Annibale, der schon länger nicht mehr mitschrieb. Die Tinktur war ein Scheinmedikament, eine wahllose Zusammenstellung von Kräutern, die weder töten noch heilen würden. Er sah seinen Vorgesetzten zweifelnd an. »Soll ich diese Phiolen in den Häusern verteilen?«
»Gesu, mein Bester, nein!«, entfuhr es dem guten Doktor. »Sie kosten einen Dukaten pro Stück für die, die es sich leisten können. Wenn Ihr natürlich zwei herausschlagen könnt, umso besser. Aber lasst es langsam angehen, die Lehrlinge können vor morgen nichts mehr herstellen.« Er dämpfte die Stimme und beugte sich vor. »Und ich habe noch einen Tipp für Euch. Wenn Ihr auf eine Mutter mit einem kranken Kind stoßt – sie zahlen jeden Preis.«
Annibale hörte ihm nicht länger zu. Er betrachtete den gemalten Arzt an der Seite des roten Karrens, der mit Schnabel und Brille versehen war und leuchtend rote Kreise auf jeder Wange hatte, die von Gesundheit zeugen sollten. Er erschien ihm grotesk, ein Hanswurst – wie Pulcinella, der hakennasige Alte in der commedia dell’arte. Schlimmer noch, er war ein Geier, der Münzen aus dem Fleisch der Toten und Sterbenden riss, nicht besser als die vier Räuber von Marseille. Er spürte, wie Valnetti ihm den Karrengriff in die Hand drückte.
»Der Karren lässt sich leicht ziehen, seht Ihr? Einen Dukaten pro Stück, vergesst das nicht. Meine Kosten müssen gedeckt werden. Verkauft diese Karrenladung – im Moment haben wir nicht mehr – und geht dann zu Bett. Cason? Cason? Wo wollt Ihr hin?«
Annibale hatte den Karrengriff angewidert fallen lassen und ging davon. Für eine solche Scharlatanerie hatte er nicht studiert. Er steuerte auf die Fondamenta Nuove zu. Myrtenrauch umwehte ihn, als wäre er ein
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