Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
nachts geflohen war. In diesem Stadtteil schien es noch keine Pestfälle zu geben. Zabato sagte, die Seuche würde am schlimmsten in dem Cannaregio genannten Bezirk wüten, und wenn sie ihre Einkäufe bei der Rialtobrücke erledigte und auf direktem Weg wieder zurückkam, bestünde keine Gefahr für sie.
So lernte Feyra ihr Stadtviertel oder sestiere Castello recht gut kennen. Ihr fiel auf, dass der Hirtenprophet überall an jeder Straßenecke und über jeder Kirchentür gegenwärtig war. Ihr Glaube erlaubte es nicht, Gott bildlich darzustellen, es war nicht nur respektlos, sondern auch gar nicht möglich. Aber hier lebten die Christen mit ihrem Gott, als wäre er ihr Nachbar, und man konnte ihm nicht aus dem Weg gehen. Er schien nur in zwei Gestalten zu erscheinen: als Baby in den Armen seiner Mutter oder halb tot am Kreuz hängend. Der Anfang und das Ende seines Lebens, dazwischen gab es offenbar nichts. Sogar auf dem Markt, wo geschlachtete Tiere an hölzernen Balken hingen, hing der Hirtenprophet hoch über allem.
Meistens ging Corona Cucina zum Markt, da sie keinem anderen zutraute, ihre kostbaren Gewürze einzukaufen, aber manchmal schmerzten ihre Beine und Füße so sehr, dass sie sich auf einen Stuhl setzen und die Beine hochlegen musste. Feyra erhaschte einmal einen Blick darauf, die Füße waren riesig, mit missgebildeten Zehen und dicken Schwellungen zu beiden Seiten. Außerdem traten die Adern an Coronas Waden wie blaue und schwarze Stricke hervor. Feyra hatte solche Adern im Harem gesehen und fragte sich, ob sie wohl je den Mut aufbringen würde, der Köchin zum Dank für ihre Freundlichkeit ihre Mittel anzubieten.
Sie vermisste es, ihren Beruf auszuüben, nicht nur wegen des sozialen Status, den dieser mit sich brachte, sondern weil sie sich danach sehnte, nach ihrer Meinung gefragt zu werden und ihre praktischen Fähigkeiten anwenden zu können. Hier stand sie in der Hierarchie der Dienerschaft ganz unten, und ihre Pflichten bestanden darin, das Haus zu säubern, Besorgungen zu machen und in den Räumen des Herrn Feuer zu entfachen.
Nach ihrem ersten Arbeitstag hörte sie auf, den Kristallring mit den vier Pferden an der Hand zu tragen. Ihre Arbeit war körperlich anstrengend, und sie wusste, dass er irgendwann einmal zerspringen oder beschädigt werden würde. Sie riss einen Stoffstreifen von einem ihrer zahlreichen Unterröcke ab, hängte sich den Ring um den Hals und schob ihn in ihr Mieder. Dabei musste sie an die osmanische Tradition denken, Amulette zu tragen, um sich seine Gesundheit zu erhalten – einen in winziger Schrift verfassten und zusammengerollten Vers aus dem Koran, den Namen Gottes auf einem Stück Papier in einer Tasche oder einen Anhänger wie die Hand der Fatima. Amulette waren geheim und persönlich, sie wurden unter den Kleidern getragen und waren für ihren Besitzer äußerst wertvoll. Nun, jetzt würde der Ring ihr Amulett sein, das Einzige an ihrer Person, das sie auf dem ganzen Weg von Konstantinopel hierher begleitet hatte. Ihr fiel auch auf, wie viel sie seit dem Tod ihrer Mutter über sie erfahren hatte. Es sagte einiges über ihr verhätscheltes Luxusleben aus, dass sie bis zu ihrem Ende jeden Tag einen Glasring hatte tragen können.
Feyra sah, dass den Frauen in Venedig sogar innerhalb der Dienerschaft das schlechteste Los beschieden war. Sie schienen über keine Ausbildung zu verfügen, und wenn die Männer abends in der Küche Karten spielten, mussten sich die Frauen in ihre Kammern zurückziehen. In Venedig, da war sie sicher, würde keine Frau dazu ermutigt werden, sich als Ärztin zu qualifizieren, oder überhaupt erst die Erlaubnis dazu erhalten.
Einiges war hier wie bei ihr daheim. Corona Cucina glich den Köchinnen, die sie im Topkapi gekannt hatte, sie war gutmütig, laut und derb. Sie redete unaufhörlich, und manchmal hätte sich Feyra am liebsten die Ohren zugehalten, um die vielen Geschichten darüber, wie es der Köchin in ihrer Jugend ergangen war oder wie verschiedene Mitglieder des Haushalts ihre Liebesaffären abwickelten, auszublenden.
Und doch begann sich Feyra allmählich gegen ihren Willen für den Feind zu erwärmen. Sie dachte an die junge Mutter, die den Tod die Hand gereicht hatte, an den Bootsmann, der ihr die Münze zurückgegeben hatte, und an Zabato Zabatini, bei dem sie untergekommen war. Bei diesen Gelegenheiten erinnerte sie sich erschrocken daran, dass sie selbst halb Venezianerin war. Sie gehörte zwei Nationen an, unabhängig
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