Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
zu befestigen. Feyra blickte auf ihre Brust hinab. Die Brosche war ein kleines Zinnkreuz, an dem eine winzige Figur hing.
Das Symbol des Hirtenpropheten zu tragen war nicht das einzige Zugeständnis, das Feyra machen musste. Ohne Schleier beleidigten die Gerüche des Hauses ihre Nase, die Fischgräten, die auf dem Küchenherd ausgekocht wurden, die Bienenwachspolitur in der Speisekammer und der ranzige Hammeltalg der Kerzen im studiolo. Der beißende Teergeruch der Kohlen, die sie holen musste, reizte sie zum Husten, und sogar das muffige Leder und Papier der Bücher in der kleinen Bibliothek, die auf einem rings um die Wände des Studierzimmers herum verlaufenden Mezzanin untergebracht war, brachte sie zum Niesen.
Einmal erlitt sie einen Schock. Als sie in den kleinen Keller unter dem Haus geschickt wurde, um Salz zu holen, streifte sie im Dunkeln etwas Borstiges. Sowie sie die Kerze hob, sah sie ein ganzes, an den Hachsen aufgehängtes Schwein, dessen Zunge ihm aus der blutigen Schnauze hing. Feyra ließ die Kerze klirrend fallen und rannte von Würgereiz geschüttelt zu dem kleinen Hof in der Mitte des Hauses. Corona Cucina kam zu ihr geeilt, rieb ihr den Rücken, während sie sich übergab, und fragte, was geschehen war. Feyra, die ihre Tarnung völlig vergaß, krächzte nur: »Porco.«
»Vor dem musst du keine Angst haben, Herzchen. In seinem Zustand kann es dir nichts mehr tun, nicht wahr?« Die Köchin streichelte Feyras klamme Wange. »Du läufst vor einem Schweinchen weg wie eine Muselmana.«
Feyra erstarrte. Da war das Wort wieder.
Muselmana.
Das Wort, das Nurbanu bei ihrem Unterricht ausgelassen hatte, das Wort, das auf den Stufen des Dogenpalastes gefallen war, als sie ihren Pantoffel verloren hatte. Sie blinzelte in das besorgte Gesicht der Köchin. Corona Cucina war gutmütig, hier bot sich ihr die Chance, etwas zu lernen. »Muselmana?«, fragte sie, bemüht, das Wort so venezianisch wie möglich auszusprechen.
»Ja – ihnen ist Schweinefleisch ein Gräuel. Und so konnten wir Venezianer den Leichnam des gesegneten Apostels Markus«, Corona Cucina malte mit dem Zeigefinger ein Kreuz auf ihren mächtigen Busen, »aus dem Land der Heiden holen, um ihn im christlichen Venedig in der Basilika zu bestatten. Sie legten den Heiligen in einen großen Korb und bedeckten ihn mit Kräutern und Schweinefleisch, und die Träger wurden angewiesen, allen, die sich ihnen näherten, um den Korb zu durchsuchen, ›Schwein!‹ zuzurufen. So führten sie die Muselmani hinters Licht und brachten unseren Heiligen nach Hause.«
Feyras Verwirrung musste ihr im Gesicht geschrieben gestanden haben, denn Corona Cucina hob die Stimme, als wäre sie begriffsstutzig. »Muselmani. Sie gehen in gelben Schuhen zur Kirche und wickeln sich einen Turban um den Kopf! Dio, dein Onkel sagte, du wärst stumm, nicht einfältig.« Sie zwickte Feyra ins Kinn. »Tja, sie wissen gar nicht, was ihnen entgeht, denn wenn das Schwein eine Woche lang gehangen hat, mache ich Pancetta und Hackfleischpastete, bei der dir das Wasser im Mund zusammenläuft. Dann hast du auch nichts mehr gegen ein Ferkelchen.«
Von da an mied Feyra den Hof, wenn Corona Cucina Schwein zubereitete. Sogar den Geruch einzuatmen war schon ein gottloser Akt, fast noch schlimmer als das Kreuz zu tragen.
Der vorherrschende Geruch im Haus war jedoch der nach Tinte und Papier. Ihr unsichtbarer Herr hatte Berge davon im Haus verteilt, es quoll aus seinen Schubladen und bedeckte die Kartentruhe und sogar den Esstisch. Sie betrachtete die Bögen ein oder zwei Mal. Die Notizen verstand sie nicht, aber die Zeichnungen waren ihr vertraut. Sie hatte ähnliche oft bei Mimar Sinan gesehen.
Es waren Baupläne.
Dieser Palladio war Architekt, wie Sinan.
Feyra begann sich den venezianischen Akzent anzueignen. Die anderen Diener sprachen nicht die reine, klare Sprache, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte. In dem Dialekt gab es so viele Zs, dass sie zusammen wie ein Bienenstock klangen, und die Leute fuchtelten so wild mit den Händen herum, dass sie sich in den schmalen Gängen des Hauses gelegentlich anstießen oder Kerzen aus ihren Haltern fegten. Aber während der beiden Mahlzeiten, die die Diener morgens und abends gemeinsam in der Küche einnahmen, beobachtete Feyra sie, hörte ihnen zu und begann sich anzupassen.
Sie verließ den kleinen Platz nur selten, aber wenn sie zum Markt ging, stellte sie fest, dass Venedig bei Tag eine ganz andere Stadt war als die, durch die sie
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