Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Medizin in diesem Land aus. »Wie bist du in Palladios Haus gekommen?«
Das Mädchen schien sich die Antwort genau zu überlegen. »Ich bin mit einem Schiff hergekommen«, erwiderte sie vorsichtig. »Mein Vater war der Kapitän, und er … er bekam die Pest.« Sie sprach gut Venezianisch, aber mit einem schweren, nicht unattraktiven Akzent. »Als wir Venedig erreichten, pflegte ich ihn, aber er starb. Ich bat im Haus des Architekten um Arbeit, und er stellte mich ein.«
Er zeigte keinerlei Mitgefühl, sondern kam gleich auf den Kernpunkt der medizinischen Seite der Sache zu sprechen. »Und du hast dich nicht angesteckt?«
»Ich wäre an Bord des Schiffes fast an der Pest gestorben, aber meine Beulen brachen auf, und ich blieb am Leben.«
»Also hattest du die Pest und hast sie überlebt?«
»Ja.«
»Aber dein Vater nicht?«
Sie schwieg so lange, dass er sich verpflichtet fühlte, weiterzusprechen. »Ich werde dir die Insel zeigen«, sagte er steif. »Es gibt noch viel zu tun, aber trotzdem läuft alles schon recht gut.« Er wusste selbst nicht, warum er meinte, seine Arbeit vor ihr entschuldigen zu müssen, und deutete unwirsch auf das große, überdachte Gebäude in der Mitte der Insel.
»Das ist mein Krankenhaus, das Tezon.« Er konnte nicht verhindern, dass sich ein Anflug von Stolz in seine Stimme schlich, und fuhr fort, ihr den Rest der Insel zu zeigen. Er konnte sich nicht erklären, warum er sie selbst herumführte, obwohl er sie sofort der Obhut der Badessa hätte übergeben können, wie er es vorgehabt hatte. Aus irgendeinem Grund eilte er auch an dem Friedhof hastig vorbei. Er nahm an, dass auch hier sein Stolz im Spiel war, denn in der letzten Zeit hatte es mehr Todesfälle gegeben – genug, um ihn des Nachts an der Wirksamkeit seiner Methoden zweifeln zu lassen. »Das sind die Armenhäuser, in denen die Familien der Kranken wohnen.« Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu, aber sie machte keine Bemerkung darüber, sondern betrachtete die Häuser nur nachdenklich und lächelte ein paar Kindern zu, die auf den Türschwellen spielten. Ihr Lächeln bewirkte, dass er plötzlich vergaß, was er hatte sagen wollen.
Sie ging an ihm vorbei. »Und was ist das?«
Annibale zuckte die Achseln, eilte durch den botanischen Garten, freute sich an den geometrisch angelegten Reihen und den eifrig mit der Gartenarbeit beschäftigten Nonnen und blieb bei dem Brunnen stehen. Er erklärte ihr die Regenzisterne und die sieben Filter aus mineralischen Salzen und Sand, die das Wasser von Venedig zum reinsten städtischen Wasser der Welt machten. Aber er sah, dass das Mädchen den steinernen Löwen mit seinem geschlossenen Buch voller Interesse betrachtete. »Und die Frauen in den schwarzen Gewändern sind die Schwestern vom Miracoli-Orden.«
»Sie pflegen die Patienten?«
»Nein. Ich bin der Einzige, der das Tezon betritt. Sie kümmern sich um die Familien und helfen mir, dafür zu sorgen, dass der Betrieb auf der Insel funktioniert. Sie arbeiten im Garten, bestücken die Forellenteiche und die Aaltümpel und waschen die Wäsche. Sie rudern zum Festland, um Vorräte zu besorgen, und versorgen die Hühner und die Ziegen. Ich werde dich der Badessa anvertrauen. Du wirst bei den Schwestern wohnen und ihnen bei den täglich anfallenden Arbeiten helfen.« Er musterte sie durch die roten Gläser seiner Maske, registrierte ihren unbedeckten Hals. Es störte ihn nicht, dass sie eine Türkin war, aber er wusste, dass die Frauen ihres Kulturkreises sich verschleierten, und er fragte sich, welche Überwindung es sie kostete, sich so den Blicken anderer auszusetzen. Es würde sowohl für ihn als auch für sie eine Erleichterung darstellen, wenn dieses Gesicht bedeckt wurde. »Du kannst einen Schleier tragen, wenn du willst«, sagte er knapp.
Feyra blickte in die leeren roten Glasaugen und versuchte zu ergründen, was darunter verborgen lag.
In der Türkei wurde auf feraset, die Physiognomie, großen Wert gelegt. Der menschliche Körper war die Bekleidung der Seele, und daher war es möglich, durch das Studium körperlicher Merkmale Rückschlüsse auf Charakter und Temperament zu ziehen. Aber der Vogelmann, der diesen Ort hier geschaffen hatte, war von Kopf bis Fuß verhüllt, sogar noch sorgfältiger, als sie sich zu bedecken pflegte, und sein Gesicht wurde von dem grässlichen Schnabel verborgen. Sie konnte ihn nur aufgrund seiner Sprache und seiner Handlungsweise einschätzen, und er hatte ihr Zuflucht geboten – nicht nur
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