Die Heilerin
sie, als sie die Tür öffnete. Die Familie saß mit gesenkten Köpfen um den Tisch. Esther erhob sich, Tränen in den Augen und nahm Margaretha schluchzend in die Arme.
»Ich habe mein Bestes getan«, murmelte Margaretha leise. »Aber es hat nicht gereicht. Ihr habt es schon erfahren?«
Verwirrt sah Esther sie an. »Margret, es tut mir so leid.«
Plötzlich hatte Margaretha das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als hätte ihr jemand einen Hieb in den Magen versetzt. Sie sah in die Runde, bemerkte jetzt erst die bedrückten Gesichter, die Tränen.
»Moedertje?« Plötzlich wurde ihr schwindelig. Wie versteinert ging sie zu der kleinen Kammer, öffnete die Tür.
Gretje lag auf ihrer Bettstatt, angezogen und die Hände auf der Brust gefaltet. Sogar ihre Haube trug sie. Margaretha starrte sie an, unfähig sich zu rühren. Dann wurden ihre Beine weich, und es wurde ihr schwarz vor Augen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf der Bank im Wohnraum. Rebecca drückte ihr ein nasses Tuch an die Stirn und Esther versuchte, ihr Brühe einzuflößen. Margaretha setzte sich auf, für einen Moment hielt sie inne, schluckte schwer. Übelkeit stieg ihr die Kehle hoch, sie fühlte sich flau. Doch schließlich schaffte sie es, aufzustehen und zu Gretje zu gehen. Sie kniete sich neben das Bett, strich ihrer Mutter sacht über die kühlen Wangen.
»Moedertje, wieso?«, schluchzte sie. »Warum bist du gegangen, als ich nicht da war?«
Esther hockte sich neben sie, legte ihr den Arm um die Schulter. »Sie ist friedlich eingeschlafen. Sie hat sich nicht mehr gequält.«
»Aber ich war nicht da. Ich war nicht bei ihr, in ihrer schwersten und schrecklichsten Stunde.«
»Hartje, Gretje ist im Schlaf von uns gegangen, ohne Pein und ohne Schmerzen. Ihr Atem wurde flacher und setzte dann schließlich aus.«
»Ich wäre so gerne bei ihr gewesen.«
»Vielleicht konnte sie nur gehen, weil du es nicht warst. Vielleicht brauchte sie diesen Moment ohne dich, um loslassen zu können. Nun ist sie bei Gott.«
Margaretha weinte haltlos. »Aber ich brauche sie doch noch? Was soll ich denn ohne sie machen?«
Sanft strich Esther ihr über den Rücken. »Sie wird immer in deinem Herzen sein.«
»Warum sind wir in dieses Land gekommen? Warum nur? Warum konnten wir nicht in Krefeld bleiben? Dort würde Mutter sicher noch leben und das Neugeborene auch. Wir sind in einem schrecklichen Land, diese Siedlung ist verflucht, zwei Tote in einer Nacht.«
Lange weinte Margaretha, nur schwer konnte sie begreifen, dass sie nie wieder mit Gretje würde reden können. Doch schließlich trocknete sie ihre Tränen. Sie musste sich um Mercken kümmern. In der Küche stand der kleine Topf mitBrühe, den sie für Gretje gekochte hatte. Ihre Mutter brauchte ihn nun nicht mehr, aber vielleicht würde er Mercken retten. Sie nahm den Topf, tat ihn in ihren Korb, dazu einen Laib Brot und ein wenig von dem Mais, den sie gekauft hatten.
Am Ende der Straße teilte die Gemeinde einen Platz als Friedhof ab. Obwohl sie den Schnee wegschaufelten und große Feuer errichteten, konnten sie keine Gräber graben. Der Boden war zu tief gefroren. So sammelten sie Geröll und Steine vom Flussufer, begruben die beiden Toten – das neugeborene Kind und die alte Frau – als die beiden Ersten darunter.
Kapitel 30
Im Dezember fiel die Temperatur noch weiter. Die Luft schien vor Kälte zu knistern, jeder Aufenthalt im Freien wurde schnell zur Qual. Die Schneeverwehungen waren so hoch, dass die zwei Stunden Fußmarsch nach Philadelphia kaum zu bewältigen waren. Die Gemeinde hungerte und fror. Obwohl die Balken der Hütten dick waren, hielten sie die Kälte kaum ab, vom Boden kroch der Frost empor, und der Wind pfiff durch die Ritzen. Die Vorräte waren fast aufgebraucht, auch wenn sie nun alles zusammentaten, damit niemand verhungern musste. Hin und wieder konnten sie Wild erlegen oder ein Kaninchen fangen. Die Bäche und Seen waren zugefroren. Selbst den Delaware bedeckte eine Eisfläche, berichteten Hermann und Abraham besorgt. Sie hatten sich nach Philadelphia begeben, trotz des Schnees, um wenigstens einige Nahrungsmittel zu kaufen. Doch auch dort herrschten Hunger und Not.
Sie brachten gepökeltes Fleisch, Mais und einige Wurzeln mit. Kaum genug, um die ganze Gemeinde zu ernähren.Außerdem kam Pastorius mit ihnen in die Siedlung. Nur einen Todesfall hatte er zu berichten, ein Kind war gestorben. Er bat darum, das Weihnachtsfest mit ihnen verbringen zu dürfen.
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