Die Heilerin
Irgendetwas in ihr hatte sie davor zurückgehalten. Und jetzt lagen die Worte vor ihr. Zischend stieß sie die Luft aus.»Hätten sie dann nicht ein Messer nehmen können? Es kurz und schnell machen? Musste es so sein? So grausam?«, fragte sie tonlos und hastig. Wieder stiegen Tränen in ihr hoch.
»Sie haben die Tat nicht zu Ende gebracht. Mein Vater und mein Bruder meinen, dass es Absicht war. Ein Zeichen, das sie gesetzt haben. Um uns zu warnen und zu erschrecken, ja womöglich, um uns zu vertreiben. Wir sind nicht mehr wohlgelitten in der Stadt, meint meine Familie.« Jan zog sie sanft an sich, strich ihr schüchtern über den Rücken. »Ich wollte dich nicht verletzen, noch frische Wunden weiter aufreißen, Margret. Bei Gott, das wollte ich nicht, und es tut mir leid, überhaupt darüber gesprochen zu haben.«
Margaretha genoss seine Berührung, seinen Trost, drückte sich noch ein wenig enger an ihn, spürte die Wärme seines Körpers. »Aber alle sprechen doch darüber, warum solltest du es nicht auch?« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, rückte von Jan ab, schaute ihn an. »Hast du Eva auch für eine Missgeburt gehalten?«
Jan zögerte, dachte nach. Seine Haare hatte er der Mode gemäß zu einem Zopf gebunden, bisher war er glatt rasiert gewesen, aber nun schien es, als ob er sich einen Bart wachsen lassen wollte. Ein Flaum bedeckte das Kinn, um die Lippen war die Haut jedoch noch glatt. Ihr Bruder Abraham hatte auch seit kurzer Zeit so einen Kinnbart.
Er fuhr sich über das Kinn, so als wolle er prüfen, ob der Flaum noch da war. Dann schüttelte er den Kopf. »Eine Missgeburt? Nein. Oder doch, schon am Anfang, als andere darüber geredet haben. Und dann habe ich sie kennengelernt. Weißt du noch den Nachmittag im Wallgarten? An dem Tag, als ich nach Krefeld zurückkehrte? Sie hatte so eine Freude in sich, hat sich an Kleinigkeiten erfreut. Sie trug die pure Lust am Leben in sich und hat das ausgestrahlt.« Er schluckte. »Sie war keine Missgeburt, sie war ein ganz besonderer Mensch.«
Margaretha senkte den Kopf. »Danke«, flüsterte sie.
»Nicht weinen, Margaretha, bitte weine nicht.« Er nahm sie in den Arm und hielt sie fest.
»Was ist hier los? Margret?« Isaak stand auf der Türschwelle. Sie hatten ihn nicht kommen hören. »Jan?«
Wie gestochen fuhren sie auseinander.
»Vater …«
»Margret, ich bin entsetzt. Was macht ihr hier? Und das gerade heute.« Fassungslos sah Isaak sie an.
»Mijnheer op den Graeff, Ihr täuscht Euch. Ich habe Margaretha geholfen …«
»Geholfen?«, polterte Isaak.
»Geholfen, das Geschirr zu trocknen.« Hilflos hielt Jan das Linnentuch hoch.
»Ihr habt Geschirr getrocknet, während Ihr meine Tochter im Arm hieltet? Wollt Ihr Euch über mich lustig machen, Mijnheer Scheuten?«
»Vater …« Margaretha wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ich habe ihn gebeten, mir zu helfen, und dann haben wir über Eva gesprochen.« Sie hielt inne, schüttelte verzweifelt den Kopf. »Und all die Erinnerungen … er hat mich gerade nur getröstet.«
»Diese Art, dich zu trösten, steht ihm nicht zu. Verlasst das Waschhaus, Scheuten! Am besten geht Ihr mir ganz aus den Augen und lasst Eure Finger von meiner Tochter. Bei Gott, wisst Ihr, wie alt sie ist? Sie ist noch ein Kind.« Isaak wurde immer lauter.
Abraham trat hinter ihn, spähte dem Vater über die Schulter. »Was ist hier geschehen?«
»Nichts, nichts, wir wollen nicht noch mehr Aufhebens um die Sache machen. Noch wurde die Ordnung nicht gebrochen.« Isaak wandte sich ab, wedelte mit den Händen. »Geleite den jungen Mijnheer Scheuten zur Tür, minn Zoon. Scheuten wollte gerade gehen.«
»Ach?« Abraham zog die Augenbrauen hoch.
Margaretha ergriff kurz die Hand von Jan und drückte sie.»Es ist … heute ist ein schlimmer Tag … er meinte es nicht so«, wisperte sie.
»Ich verstehe das schon.« Jan erwiderte den Druck, sah ihr in die Augen, schien dort für einen Moment einzutauchen. Dann drehte er sich um und verließ die Waschküche.
Margaretha ballte die Hände zu Fäusten. Der Augenblick des Trostes, den sie in Jans Armen empfunden hatte, war verflogen. Sie trocknete die Teller und Schüsseln ab, goss das noch dampfende Wasser aus der Spülschüssel in den Hof, trug das saubere Geschirr in die Küche. Ob jemand den Streit mitbekommen hatte, wusste sie nicht, doch nach und nach verabschiedeten sich die Gäste. In der Stube saßen zwei der Gemeindeältesten, Isaak und Hermann. Abraham hatte
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