Die Heilerin
an, nickte dann aber langsam. »Ich bin müde, Dochtertje.«
Margaretha zuckte zusammen. Dochtertje, so hatte Gretje immer Eva genannt.
»Soll ich dir helfen? Mit dir nach oben gehen?«
Gretje antwortete nicht, stattdessen schaute sie sich verwirrt um. »Wer sind all die Leute, und was feiern wir heute? Ist schon Neujahr?«
»Mutter? Heute … wir haben … Eva …« Die Worte blieben in ihrer Kehle stecken, und sie wusste nichts mehr zu sagen.
»Eva.« Gretje sackte in sich zusammen. »Ach ja. Eva.« Sie stöhnte auf. »Eva, mein Engel, mein Kind.«
»Komm, Mutter.« Margaretha zog Gretje hoch, führte sie nach oben. Sie half der Mutter die Kleider abzulegen, deckte sie zu. Die Stundenkerze brannte beruhigend. Langsam ging Margaretha wieder nach unten. Zwar hatte Gretje heute einen großen Schritt getan, aber wie würde es in Zukunft werden? Die Last der Verantwortung wog schwer auf Margarethas Schultern. Sie war müde und erschöpft, bedrückt ging sie nach unten, doch nun schienen alle aufgetaut zu sein. Aus der Stube und der Küche erschollen die Stimmen, sie lachten, erzählten. Margaretha stockte. Konnte sie das ertragen? Hatte sie eine Wahl? Am Fuße der Stiege standen zwei Personen und wisperten miteinander.
»Du hast so wunderschönes Haar, Esther.«
»Du Tollkopf.« Das Mädchen lachte leise. Dann wurde sie ernst. »Was wird denn nun?«
»Ich weiß es nicht, mein Herz. Ich weiß es wirklich nicht.« Die Stimme des Mannes klang auf einmal betrübt. »Alles scheint sich zu verändern. Die Sache mit Dirck und nun … mit Eva …« Er hauchte den Namen nur. »Es ist furchtbar und zerreißt die Familie. Mutter leidet grauenvoll.«
Margaretha hielt inne. Offensichtlich hatten die beiden sie nicht gehört. Was sollte sie tun? Sich bemerkbar machen? Sich zurückziehen? Unsicher blieb sie stehen.
»Das glaube ich dir. Deine Mutter wirkte heute so ganz anders als sonst«, sagte Esther. Esther Theißen musste es sein, eine junge Frau aus der Gemeinde. Sie hatte rotes, lockiges Haar und war übersät mit Sommersprossen. Ein fröhliches Mädchen.
»Mutter fällt es schwer. Sie leidet.« Er seufzte.
Nun erkannte Margaretha die Stimme, es war ihr Bruder Hermann.
»Bevor sie sich nicht erholt hat, kann ich Vater nicht fragen, wie es mit meinem Erbe und einer Teilhaberschaft aussieht. Und bevor ich keine Teilhaberschaft habe, kann ich dich nicht ehelichen, mein Herz.«
Es dauerte einen Moment, bis Margaretha die Worte verstanden hatte, aber dann hüpfte ihr Herz. Hermann hatte eine Frau gefunden, eine, die er liebte. Ihr Bruder war ernsthaft und in sich gekehrt, ein gottesfürchtiger Mensch. Die fröhliche Esther war ein guter Gegenpol zu ihm, dachte Margaretha. Diese Schwägerin wäre mir wohlgesinnt.
Margaretha hustete laut, bevor sie die Treppe weiter hinunterschritt.
Hermann sah erschrocken auf, lächelte aber dann zaghaft. »Margret …«
Sie nickte ihm und Esther zu, wollte an ihnen vorbeigehen und beiden noch einen Moment Zweisamkeit gönnen, doch ihr Bruder hielt sie am Arm fest.
»Was ist mit Mutter?«, fragte er besorgt.
»Ich habe sie zu Bett gebracht. Sie ist sehr erschöpft.«
»Ja.« Hermann stockte. »Wird sie sich erholen?«
Margaretha biss sich auf die Lippe. Dann schüttelte sie leicht den Kopf. »Das weiß ich nicht, es liegt in Gottes Hand.«
»Natürlich. Aber sie ist mit zum Friedhof gekommen, hat sich um die Speisen gekümmert. Sie wird doch wieder werden?«
Die Geschwister sahen sich an. In ihren Gesichtern spiegelte sich die große Unsicherheit, die sie empfanden. Der Gedanke,dass Gretje an dem Kummer zerbrechen könnte, war so unheimlich, dass sie ihn kaum zu Ende denken mochten.
»Ich hoffe sehr, dass sie sich erholt, Hermann. Aber ob sie jemals wieder wie vorher sein wird, bezweifele ich.«
Er nickte. »Keiner von uns wird das, fürchte ich.«
»Und trotzdem müssen wir weitermachen. Ich gehe in die Küche und schaue nach den Gästen.«
»Soll ich dir helfen?«
Margret lächelte und warf Esther einen Blick zu. »Gleich. Lass dir ruhig noch etwas Zeit. Vermutlich habt ihr wichtige Dinge zu besprechen.«
Esther zwinkerte ihr freundlich zu, über Hermanns Gesicht zog sich eine leichte Röte, und er räusperte sich verlegen.
In der Küche war es heiß und stickig. Auf dem Herd brodelte eine Suppe. Pasteten, Brot, Schmalz und Butter und Reste des Schinkens bedeckten den großen Tisch. Die Frauen saßen um den Tisch und auf den Bänken, schwatzten, tranken verdünnten
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