Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
gegeben.«
Agnes stellte die Speise zur Seite und wartete auf eine Antwort. Doch außer dem wirren Blick gab es keine Reaktion. Was sollte sie dieser armen Frau sagen? Wie konnte man jemandem in solch einer Situation überhaupt Hilfe leisten? Sie musste erst einmal den Schock überwinden. Erst dann war es möglich, sie aufzubauen.
»Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte Agnes und zeigte dabei auf das Bett.
Maria antwortete nicht. Stattdessen rutschte sie weiter in die Ecke und machte Platz. Die Nonne setzte sich ans andere Ende des Bettes und wartete geduldig. Mit der Zeit ließ Marias Nervosität nach, der Blick wurde ruhiger, und die Decke rutschte auf ihren Schoß.
Agnes grübelte und grübelte, was sie sagen könnte, aber ihr fiel nichts Gescheites ein. Doch dann platzte ihr die unmöglichste Frage heraus, die sie sich vorstellen konnte. Die Neugierde hatte über die Rücksichtnahme gesiegt.
»Erinnert ihr euch, wer euch überfallen hat?« Wütend biss sich Agnes auf die Lippen. Wie konnte sie nur so herzlos und dumm sein?
Doch Maria zeigte kein Entsetzen, kein Erschrecken, nicht einmal ein kurzes Zucken im Gesicht. Als wäre sie plötzlich die Ruhe selbst. »Kannte die Männer nicht.«
Diese ersten gesprochenen Worte überraschten Agnes. Maria hatte einen ungewöhnlichen Akzent. Es klang, als hätte sie ursprünglich eine ganz andere Muttersprache gehabt. Als wäre sie weit von hier aufgewachsen.
Die Nonne atmete tief durch. Jetzt hatte sie schon einmal angefangen, jetzt konnte sie die Befragung auch fortführen. »Habt ihr gesehen, wie viele es waren?«
Maria schüttelte nur den Kopf.
»Könnt ihr sie vielleicht beschreiben?«
»Nur Schatten. Männer in der Nacht alle gleich aussehen. Dann gesehen, wie Christus weint. Wusste, wird wieder Schlimmes passieren. Wusste auch, werde gerettet.«
Agnes zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Was meint ihr damit, dass Jesus weinte?«
»Sein Bild hängt doch in mein’ Zimmer. Tränen kamen aus den Augen.«
Jetzt erinnerte sich die Nonne an die Erzählungen der Mitschwestern im Kloster. Diese Maria hatte des Öfteren Visionen, und zwar immer dann, wenn das Kruzifix, das in der St. Nikolai-Kirche in einer Seitennische hing, zu weinen begann. Agnes hatte am Morgen aber nicht darauf geachtet, ob in der Wohnung auch ein Jesusbild hing. Sie musste unbedingt noch einmal in die Wohnung und das überprüfen.
»Woher wusstet ihr, dass ihr gerettet werdet, wenn unser Herr weint?«
»Das schon immer so gewesen. Wenn Christus weinte, dann kommen böse Fremde mit langen Messern. Aber ich wurde jedes Mal gerettet.«
»Was passierte gestern Abend?«
Maria legte den Kopf auf die Seite und schloss die Augen. Ihr Gesicht verzog sich, als hätte sie plötzlich Schmerzen bekommen. Langsam begann sie, sich hin und her zu wiegen. Ihre Hände öffneten und schlossen sich im steten Wechsel.
Agnes wurde bei dem Anblick ganz nervös. Das war jetzt doch zu viel des Guten gewesen. Sie hätte doch nicht so vorwitzig sein dürfen. So etwas Dummes aber auch!
»Maria!«, flehte sie, »es tut mir leid. Ich wollte euch nicht erschrecken.«
Die junge Frau hielt plötzlich inne und schaute die Nonne erstaunt an. »Wieso erschrecken? Ist nicht schlimm. Aber ich weiß nicht mehr, was geschehen. Irgendwo Schreie gehört, als Männer kamen. Habe mich versteckt. Mehr weiß ich nicht.«
Agnes fiel ein großer Stein vom Herzen. Sie hätte sich die allerschlimmsten Vorwürfe gemacht, wenn jetzt der Zusammenbruch gekommen wäre. Die junge Nonne überlegte, was ihr selbst half, wenn sie Probleme hatte. Sie hatte sich gründlich ausgesprochen, sich alle bösen Gedanken und Überlegungen von der Seele geredet. Sie war zur Beichte gegangen.
»Soll ich euch einen Priester holen?«, schlug sie nun eifrig vor.
Aber die junge Witwe richtete sich kerzengerade auf. Ihr Blick wurde wieder unstet. »Nein, keine Männer! Männer immer so schlecht zu mir.«
»Auch Priester?«, warf Agnes schnell ein. Dieser plötzliche Umschwung kam doch sehr überraschend.
Maria hielt abwehrend ihre Hände in die Höhe. »Alles Männer!«, entgegnete sie laut. »Alles Männer!«
»Aber ihr ward doch verheiratet?«
»Nein, nein«, entgegnete die junge Witwe und bewegte ihre rechte Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger hin und her. »Onkel Ulrich wollte das. Aber es war nicht richtig. Wer den Geist vom Herrn bekommen hat, muss abgesondert sein. Man muss heilig sein. Darf nicht heiraten.«
»War Kunibert auch schlecht
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