Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
allen Anwesenden absolut bewusst. Einen Mörder zu finden, der in keinerlei Verbindung mit dem Opfer steht – außer durch die Tat selbst –, ist äußerst schwierig. Da benötigte man schon einen Tatzeugen oder einen anderen glasklaren Beweis. Und falls dieser Mörder auch tatsächlich überführt würde, hätte man dadurch noch nicht unbedingt seine Hintermänner.
Resigniert sagte Agnes: »Bevor wir weitersuchen, gehe ich noch einmal ins Kloster. Ich möchte nach Maria sehen. Vielleicht erfahre ich heute mehr.«
Sofort war Ludolf aufgesprungen. »Ich begleite dich bis vor die Klostertür.«
»Das ist doch nur nebenan.«
»Ja und?«
»Und wenn die Äbtissin dich sieht und mir wieder Ärger macht?«
Da hatte sie recht. Enttäuscht und missmutig setzte sich Ludolf wieder. »Dann warte ich lieber hier auf dich.«
Agnes lächelte. Wenn der Kerl nicht in ihrer Nähe sein durfte, wurde er bockig wie ein Esel. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sehr sie sich im letzten Jahr in Minden gestritten hatten, weil Agnes eine Zeit lang zusammen mit dem Hauptmann der Stadtwache Nachforschungen angestellt hatte. Ludolf war gereizt und mürrisch gewesen und hatte sie seine schlechte Laune deutlich spüren lassen. Im Grunde genommen war er ein unsicherer Mensch, der sich lieber die schlimmsten Umstände ausmalte, als anderen zu vertrauen.
»Ach, Quatsch!«, sie nahm seine Hand und riss ihn hinter sich her. »Du kommst jetzt mit! Basta!«
Ludolf und Agnes schlenderten langsam an der Klostermauer entlang in Richtung Pforte. Mit Rücksicht auf neugierige und missbilligende Blicke hielten sie einen schicklichen Abstand zueinander. Sie sprachen kein Wort, dafür trafen sich ihre Blicke umso öfter. Diese Nähe war schon viel mehr als das, was sie sich in den letzten Monaten erträumt hatten. Wenige Schritte neben dem Eingang zu St. Jakobi blieben sie stehen.
Ludolf wollte Agnes aber nicht so einfach gehen lassen, deshalb griff er noch einmal das Thema von vorhin auf: »Wie denkst du über das weinende Kruzifix?«
»Ein Wunder. Ganz eindeutig«, kam die prompte Antwort.
»Warum?«
Agnes legte den Kopf auf die Seite und schaute ihn fragend an. »In früheren Zeiten gab es immer Wunder. In der Bibel sind so viele beschrieben: bei Moses, bei Elia, bei Jesus. Und auch heute gibt es immer wieder Berichte über Erscheinungen und Unerklärliches. Gott zeigt sich den Gläubigen durch diese Wunder. Aber nur den wahrhaft Gläubigen, alle anderen werden sie nie zu Gesicht bekommen.«
Ludolf kratzte sich grübelnd am Kinn. »Genau. Du sagtest ganz richtig: Unerklärliches. Nur weil wir eine Erscheinung nicht erklären können, ist es noch kein Wunder.«
Agnes merkte genau, worauf Ludolf hinauswollte. Er war schon immer ein Skeptiker gewesen, der sich lieber in Laboratorien herumtrieb oder dicke Bücher mit Beschreibungen der Natur studierte, als sich von der Bibel oder den Schriften der Heiligen leiten zu lassen. Aber sie konnte schließlich auch argumentieren.
»Aber wenn jede mögliche Erklärung die Erscheinung nicht erklären kann?«
»Jede mögliche Erklärung? Oder sollte man da nicht eher sagen: jede bekannte Erklärung?«
»Was soll diese Spitzfindigkeit? Ist das nicht dasselbe?«
»Vielleicht können wir heute etwas noch nicht erklären, aber dafür in ein paar Jahren.«
Agnes schüttelte vehement den Kopf. »Was sollte es noch geben? Es ist doch schon alles erklärt.«
»Wie bitte?« Ludolf starrte sie mit großen Augen an. Seine Miene drückte fassungsloses Erstaunen aus. »Alles? Wirklich alles?«
»Sicher!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blitzte ihn böse an.
»Was ist denn zum Beispiel mit der Seitenkrankheit 24 ? Plötzlich treten die Schmerzen auf und ein paar Tage später ist man tot. Willst du nicht wissen, woher das kommt?«
»Ist doch klar«, kam es schnippisch. »Verschiedene Körpersäfte sind aus dem Gleichgewicht geraten.«
»Aber warum?«
»Das weiß nur Gott.«
»Und vielleicht wissen auch wir das in ein paar Jahren und können es dann heilen.«
»Das wäre Gotteslästerung!« Energisch stampfte sie mit dem Fuß auf, um ihren Unmut kundzutun.
»Warum sollte das Gotteslästerung sein?«
»Weil wir uns dann auf die gleiche Position wie Gott stellen.«
Ludolf schüttelte den Kopf. »Da bin ich anderer Meinung. Gott ist der Schöpfer, er hat die Erde, das Weltall, uns Menschen und alle Tiere und Pflanzen ins Dasein gebracht. Wir können ganz klar nur Beobachter sein. Aber wenn
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