Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Nonnen wollte eine Antwort geben. Dann war Agnes von der Äbtissin höchstpersönlich verboten worden, zu fragen. Aber da die Möllenbeckerin ihre Neugier nicht immer beherrschen konnte, hatte sie trotzdem versucht, etwas herauszubekommen. Als Strafmaßnahme war ihr das Amt der Scholasterin entzogen worden, und sie hatte neue Aufgaben bekommen. Zu der Zeit begannen Agnes’ Schwierigkeiten im Kloster. Seitdem war das Leben hier zur Qual geworden.
»Was tust du hier?«, erklang es nun laut und schrill vom Gang her.
Agnes fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand die Äbtissin und blickte finster zu ihr hoch.
Die junge Nonne hatte sich schnell wieder gefangen. »Ich hörte Geschrei und wollte helfen.«
»Du hast hier nichts zu suchen. Sofort raus mit dir. Wehe, ich finde dich noch ein einziges Mal hier!«
Seit den gestrigen Vorfällen hatte Agnes jeglichen Respekt gegenüber der Äbtissin verloren. Wer sich so anmaßend und rücksichtslos verhielt, dem konnte sie sich nicht unterordnen. »Habt ihr diese Schwestern auch von eurer Priorin schlagen lassen? Bei ihnen ist es jedenfalls deutlich sichtbar, dass sie unkeusch waren. Bei mir ist es nur eure unbegründete Vermutung.«
Die Äbtissin holte wieder zu einer Ohrfeige aus, hielt aber im letzten Moment inne. Agnes hatte kampfbereit ihre Fäuste in die Seiten gestemmt, ab jetzt durfte sich niemand mehr erlauben, sie tätlich anzugreifen. Greta von Hattelen war sich ihrer körperlichen Unterlegenheit bewusst, sie war immerhin fast einen Kopf kleiner und nicht so kräftig gebaut. Die zwei Kontrahentinnen standen sich unbeweglich Auge in Auge gegenüber. Mit Blicken rangen sie miteinander, während im Hintergrund Adelheid in den Wehen stöhnte und schrie.
Schließlich presste die Äbtissin hervor: »Hier finden gefallene Mädchen, die ihre Sünde bereut haben, ein neues Zuhause. Sie werden gnädigerweise aufgenommen, um Nonne zu werden. Die Kinder können natürlich hier nicht bleiben und werden deshalb nach ein paar Tagen an vorbildliche Familien weggegeben. Diese Einrichtung ist ein Zeichen christlicher Nächstenliebe an den Mädchen. Habt ihr das jetzt endlich verstanden? Wir müssen das geheim halten, damit wir nicht von diesen jungen Dingern überrannt werden. Wir können nur wenige aufnehmen. Ist das klar?«
Agnes war bei der Erklärung immer weiter zurückgewichen. So viel Barmherzigkeit und Mitgefühl hätte sie der Vorsteherin niemals zugetraut. Falls die Äbtissin die Wahrheit sagte, verdiente diese Hilfe wirklich Hochachtung. Jede Frau, die hier Beistand gefunden hatte, würde auf ewig dankbar sein und dem Kloster die Treue halten. Deswegen hatte sich Agnes hier nie einordnen können – ihr fehlten diese bitteren Erfahrungen. Darum war sie von Anfang an eine Fremde gewesen.
Die Nonne nickte nur kurz der Äbtissin zu und entfernte sich dann langsam. Sie war verwirrt. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gesehen und erfahren hatte. Aber warum wurden die Schwangeren weggeschlossen? Wenn schon mehrere Nonnen mit ähnlichen Erfahrungen hinter diesen Mauern Zuflucht gefunden hatten, gab es doch keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen. Fremde kamen hier gar nicht herein. Selbst Familienangehörigen war der Zutritt verwehrt.
Inzwischen war Agnes wieder zum Kreuzgang hinuntergestiegen. Sie stand im Brunnenraum, dem Waschraum der Schwestern, und grübelte hin und her. Jeder anderen Nonne hätte sie die Erklärung mit den gefallenen Mädchen auf der Stelle abgenommen, aber nicht der Äbtissin.
Agnes war vor sieben Monaten nach Rinteln gekommen, im Januar kurz nach Epiphania 28 . Adelheid, Simons Schwester, war im Unterricht immer sehr still gewesen und hatte einen bedrückten Eindruck gemacht. Agnes hatte versucht, mit ihr zu sprechen, sie zu fragen, ob sie Hilfe benötigte. Aber die Novizin blieb verschlossen – jetzt war klar warum. Und nach etwa zwei Monaten war sie verschwunden. Heute, Anfang August, kam ihr Kind zur Welt. Agnes rechnete nach. Also musste Adelheid ungefähr im vierten Monat ihrer Schwangerschaft weggesperrt worden sein, damit niemand ihren Bauch sah. Ihr Sündenfall musste also im November gewesen sein. Die Geschichte klang einleuchtend.
Aber wie stand es um die Nonne Ursula? Agnes hatte sie noch vier Monate nach ihrer Ankunft gesehen. Das letzte Mal war irgendwann im Mai gewesen. Sie hatten sich noch über die schöne Apfelblüte unterhalten. Jetzt schob sie ihren Bauch bereits sichtbar vor sich her. Sie musste also etwa im siebten
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