Die heimliche Braut
Eleanor bestickte gerade ein Band, um damit den Saum ihres herrlichen scharlachroten Gewandes zu verzieren. Schneidern konnte Riona zwar auch, doch ihre Nähkünste waren mehr praktischer Natur und eher geeignet zum Flicken und Säumen. Auf verzwickte Stickereien verstand sie sich weniger, und selbst wenn, so hätte sie sich die benötigten Materialien ohnehin nicht leisten können. Aber sie war zufrieden, an der Seite ihrer Freundin zu sitzen und ihr zur Hand zu gehen, indem sie Garn einfädelte oder vielfarbige Wollfäden auf Länge schnitt, derweil Eleanor an ihrem Stickrahmen werkelte. So konnte Riona sich ein wenig in der Kunst des Stickens unterweisen lassen und sich gleichzeitig leise mit der Freundin unterhalten.
Auf der anderen Seite des Saals steckten Joscelind, Lavinia und Priscilla auf ähnliche Weise die Köpfe zusammen. Eifrig miteinander tuschelnd, ließen sie ab und an verstohlen den Blick durch die Halle schweifen. Lady Joscelind zeigte Riona die kalte Schulter, worauf diese sie ihrerseits gänzlich ignorierte. Die anderen beiden hatten sich offenbar mit der Schönen verbündet, was indes weder Eleanor noch Riona auch nur einen Deut interessierte. Audric und Lord Chesleigh saßen am Herrentisch auf dem Podest und spielten Schach. Onkel Fergus und Fredella lustwandelten irgendwo auf dem Burggelände, und Percival hatte sich, begleitet vom Grafen D’Anglevoix, wieder einmal ins Dorf begeben.
Percival war Riona demonstrativ aus dem Wege gegangen. Was genau der Hausherr mit ihm beredet hatte, war ihr ein Rätsel, allerdings eines, in welches weder sie noch ihr Onkel, noch Eleanor und deren Zofe sich weiter zu vertiefen gedachten. Sie waren mit der neuen Lage zufrieden, und wenngleich Riona unverändert davon ausging, dass Eleanor nach wie vor als Braut infrage kam, schmiedete Onkel Fergus doch allerlei Pläne und Winkelzüge, um sie von ihrem Cousin zu befreien. Doch Gesetze waren nun einmal unumstößlich, und Eleanor, die des Lesens mächtig war, hatte die Dokumente gesehen, durch welche sie an ihren Cousin und seine Vormundschaft gefesselt war. Es hatte den Anschein, als sei in rechtlicher Hinsicht nicht allzu viel auszurichten. Noch am Vortage hatte Riona sich geraume Zeit damit abmühen müssen, ihren Onkel davon zu überzeugen, dass eine Entführung mehr Probleme schaffen denn lösen würde. Glücklicherweise hatte er es schließlich eingesehen – wenn auch zähneknirschend!
Was nun den Urheber all dieser List und Tücke betraf, so war es Riona unerfindlich, wo Sir Nicholas augenblicklich steckte. In seinem Burgsaal hielt er sich eher selten auf und ließ sich allenfalls zum Abendessen sehen. Am Tag überwachte er höchstpersönlich die Waffenübungen seiner Truppe. Zuweilen ritt er auch mit auf Streife, um die Grenzen des Anwesens zu kontrollieren oder nach Gesetzlosen Ausschau zu halten sowie nach sonstigen Galgenvögeln, welche möglicherweise die Gegend unsicher machten. Jeden Morgen traf er sich mit seinem Kastellan, um die Rechnungsbelege zu sichten oder andere Dinge zu regeln. Als Lehnsherr war er ein viel beschäftigter Mann; einen Faulpelz konnte man ihn wahrlich nicht nennen.
Eleanor blickte von ihrer Handarbeit auf und wies kopfnickend auf Lavinia. “Also, uns führt sie nicht hinters Licht”, bemerkte sie mit einem amüsierten Lächeln. “Sie kann ja kaum den Blick von Audric wenden!”
Auch Riona musste schmunzeln. “Er ist fürwahr kein übel aussehender Jüngling! Außerdem wirkt er sehr sympathisch.”
Jedenfalls für einen Normannen! fügte sie insgeheim hinzu, denn der bislang einzige wirklich liebenswürdige Mensch, dem sie auf normannischer Seite begegnet war, war Eleanor. Fredella stammte aus der Grafschaft Lincolnshire und war somit mehr Angelsächsin als Normannin, ja sogar mehr Dänin als Angelsächsin, denn die Dänen hatten jenen Teil von England über Jahre besiedelt.
“Percival meint, Audric sei für den geistlichen Stand bestimmt”, stellte Eleanor fest.
“Nie im Leben, wenn er Lavinia weiterhin so anstarrt”, widersprach Riona, während sie ihre Gedanken an einen anderen Mann verdrängte, der gleichfalls nicht zum Priester taugte.
“Ob Sir Nicholas wohl gemerkt hat, dass sie einander zugetan sind?”
“Wie denn wohl nicht? Es ist doch kaum zu übersehen.”
“Und dennoch weilt sie noch hier!”
“Nach meiner Überzeugung hat er dafür, wie er es nennen würde, ausgezeichnete politische Gründe. Vielleicht möchte er nicht riskieren, die beiden
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