Die heimliche Lust
ihre Sittsamkeit und ihre Stummheit ist; und natürlich ihre Selbstlosigkeit, ihre Bereitschaft, allen zu verzeihen, die sie verletzen (einschließlich grausamer Stiefschwestern, böser Mütter, Meerhexen und anderer weiblicher Figuren, deren Rolle es gewöhnlich ist, die Gesetze des Patriarchats durchzusetzen und all jene zu bestrafen, die dagegen verstoßen). Während ihre Attraktivität für den Prinzen offenkundig ist, gilt dies für ihre Sexualität nicht: in ihrem glühenden Eifer, den bewundernden Blick des Prinzen auf sich zu ziehen, hat das vorbildliche Mädchen seine Leidenschaftlichkeit bereits aufgebraucht; endlich die Seine geworden, ist die Seejungfrau im Disney-Film zu ewiger Geschlechtslosigkeit verdammt. Unwissentlich hat sie an der Vorbereitung ihres eigenen Abgangs aus der Geschichte mit Beginn des Ehelebens mitgewirkt.
Das Märchen vom Aschenputtel 3 beschreibt das weibliche Ideal ähnlich wie die Geschichte von der Meerjungfrau: Auch sie, ein armes Hausmädchen, muß verwandelt werden, um eine geeignete Partie für den Prinzen darzustellen. Beide Figuren, Meerjungfrau und Aschenputtel, müssen das, um akzeptable Menschen zu werden, und beide erwarten nach ihrer Verwandlung den Lohn männlicher Gunst. Die aktivere Seejungfrau — schließlich ergreift sie die Initiative, um ihren Geliebten zu erringen — verliert; Aschenputtel gewinnt. Aber beide Mädchen haben ein gemeinsames Merkmal, ihre Stummheit.
Das Mädchen, das in diesem Märchen eine Traumkarriere macht, sagt niemals etwas über seine Wünsche, sein Vergnügen; vielmehr »stammelt Aschenputtel«, so schreibt Louise Bernikow in Among Women (1980), »außerstande, zu sagen, was sie will — denn sie ist passiv, leidend und sittsam...«; die gute Fee »ahnt einfach Aschenbrödels Wunsch...«, schön gekleidet zu sein, auf den Ball zu gehen und den Prinzen zu erringen — wie auch wir ihn ahnen. Es scheint unvorstellbar, daß sich Aschenputtel dieses Szenarium nicht wünschen könnte.
Aschenputtel äußert keine Gefühle, was auch immer um sie herum geschieht, sei es gut oder schlecht. Ihre Stimme, die uns ihren Wunsch nach Liebe, ihre Erwartungen für das Leben nahebringen könnte, bekommen wir nicht zu hören. Wie war der Ball? War es aufregend, von diesen schrecklichen Schwestern beneidet zu werden? Wie war der Prinz? Sicherlich ist er reich und gutaussehend, aber magst du ihn? Hat es Spaß gemacht, mit ihm zu tanzen? Findest du ihn sexy? Und was diese Drohung betrifft, in einen Kürbis verwandelt zu werden — bedeutet diese Ermahnung, vor Mitternacht zu Hause zu sein, nicht, daß dich jemand daran hindern will, mit einem Mann zu schlafen ? »Das Ziel ihrer Verwandlung ist im Grunde nicht Vergnügen«, schreibt Bernikow, »sondern auf den Ball zu gelangen, und zwar mit der richtigen Ausstattung, um den Prinzen einzufangen .« Und wir als Leserinnen sehen sie durch seine Augen und geben uns damit zufrieden, nicht zu wissen, was sie sah, fühlte , sagte. Wir füllen die Lücken reflexartig, ohne daran zu zweifeln, daß das Vergnügen des Prinzen auch ihr Vergnügen ist. Wir liefern eine fehlende Stimme — aber ist es die ihre? Wir liefern den Schluß, aber was geschieht mit ihr danach?
Niemand sagt rundheraus zu Frauen: Gebt eure Sexualität auf, dann könnt ihr alles haben. Aber wir Frauen haben in unserer Jugend so sicher wie Aschenputtel die Gefahr kennengelernt, die einem anständigen Mädchen droht, das nicht Schlag Mitternacht zu Hause ist: es wird alles verlieren. Sein Abendkleid wird sich in Lumpen verwandeln, seine Kutsche in Gemüse. Es wird nicht länger begehrenswert sein. Was die Frauen empfanden, als sie stumm und geschlechtslos wurden, als sie die Eigenschaften der vorbildlichen Ehefrau annahmen, war Wut und Traurigkeit und Verlust — genau wie die Mädchen, wenn sie die Eigenschaften des vorbildlichen Mädchens annehmen. Als ich in meinen Gesprächspartnerinnen diese Mädchen sah, begann ich etwas Paradoxes zu verstehen, etwas, das auf den ersten Blick sinnlos erscheint: Warum sollte eine lebendige, sexuell aktive Frau heute ihre Lebendigkeit und Sexualität aufgeben und danach streben, Donna Reed zu werden, eine geschlechtslose, stumme, erwachsene Version der stummen und verstümmelten kleinen Meerjungfrau?
Um darauf die Antwort zu finden, müssen wir wieder zu den Mädchen zurückkehren. Es gibt ein paar halbwüchsige Mädchen, die sagen, »nicht mit mir«, die beschließen, an ihrer inneren Autorität festzuhalten
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