Die heimliche Lust
der kleinen Seejungfrau nicht gelingen, die Liebe ihres Prinzen zu erringen, sollte er mit einer anderen Hochzeit halten, dann werde ihr schon am nächsten Morgen das Herz brechen, und sie werde sich augenblicklich in eine Schaumkrone verwandeln. Gut, antwortet die Nixe. Ich bin einverstanden.
Als Lohn für die Verwandlung fordert die Meerhexe einen Preis: Sie wird der Seejungfrau die Zunge abschneiden. Das Mädchen werde zwar die Chance haben, den Prinzen zu erobern, aber stumm. Und unter Schmerzen. Und gelinge es ihr nicht, ihn zu heiraten, dann sei es ihr Tod. Die Meerjungfrau jedoch ist leidenschaftlich verliebt und stimmt diesen Bedingungen zu.
Als sie in Menschengestalt vor dem Prinzen erscheint, ohne Zunge und mit den versprochenen schneidenden Schmerzen in ihren neuen Beinen, ist er betört von ihrer Anmut, ist bezaubert von diesem lieblichen Mädchen, das so sehr der Frau gleicht, die ihn rettete, der einen Frau, die zu lieben und zu heiraten er gelobt hat. Aber er ist sich nicht im klaren darüber, daß sie diese Frau ist. Und die kleine Seejungfrau kann nicht sprechen.
So kommt es, daß der Prinz eine Prinzessin kennenlernt, sich in sie verliebt und ihr, nicht seiner stummen Begleiterin, glaubt, daß sie das Mädchen sei, das sein Leben rettete. Die kleine Meerjungfrau wird dazu bestimmt, der Braut bei der Hochzeit die Schleppe zu tragen — stumm, verstümmelt, gebrochenen Herzens — , und als Strafe dafür, daß sie den Prinzen nicht für sich gewonnen hat, muß sie kurz darauf sterben.
Die Geschichte geht noch weiter. In Kürze: Wenn sie den Prinzen tötet, kann sie ihr eigenes Leben retten. Sie weigert sich, und darin liegt die Moral: Weil die kleine Seejungfrau so gütig ist, so liebevoll, so selbstlos und so bereit, dem Prinzen zu verzeihen (der fortan bis an sein Lebensende mit einer anderen Frau glücklich ist, die er mit ihr verwechselt hat), wird ihr Leben gerettet. »Von den 156 Märchen, die Andersen in seinem Leben geschrieben hat, ist diese Geschichte nach wie vor eine der bezauberndsten«, schließt der Klappentext.
Wer kann diese Geschichte von Verstummen und Verstümmelung, von Schmerz, gebrochenem Herzen und Verlust »bezaubernd« nennen? Wessen Kriterien entsprechen diese Eigenschaften, die ich eben genannt habe — Güte, Selbstlosigkeit und Verzeihen? Kleine Mädchen, die »Die kleine Meerjungfrau« lesen, bekommen eine schreckenerregende Geschichte vorgesetzt mit fünf eindeutigen Lektionen über die Liebe, von denen eine weniger »bezaubernd« ist als die andere:
Liebeslektion 1: Um von einem Mann erwählt zu werden, bedarf es einer grundlegenden Verwandlung. Du kannst nicht du selbst sein und geliebt werden.
Liebeslektion 2: Nach deiner Verwandlung, die qualvoll und deformierend sein wird, kannst du nur hoffen, daß der Mann, für den du dich so großer Mühen, ja Qualen unterzogen hast, imstande sein wird, zu erkennen, wer du wirklich bist. Ihm ist auch nicht bewußt, wieviel von dir du um seinetwillen verändert hast.
Liebeslektion 3: Falls ihm nicht gefällt, was er sieht, wirst du deine Existenz verlieren.
Liebeslektion 4: Was auch immer dir zustößt, du wirst kein Bedürfnis nach Rache und Vergeltung haben. Du wirst großzügig, selbstlos und verzeihend sein, und du wirst schweigen. Und das wird man »anständig« nennen.
Liebeslektion 5: Diese Anständigkeit, deine Bereitschaft, zu schweigen und dich verstümmeln zu lassen, um einen Mann für dich zu gewinnen, wird dich für die Rolle des vorbildlichen Mädchens — und später der vorbildlichen Ehefrau — qualifizieren.
Verzichte auf Sex, und du bekommst alles andere
Nicht alle Geschichten von Mädchen, die darauf warten, vom Prinzen entdeckt zu werden, enden so glücklich. Die Disney-Filmfassung der »Kleinen Meerjungfrau« [1989] erhält die Grundprämisse, befriedigt dabei aber alle unsere Erwartungen, daß der Traum vom ewigen Glück in Erfüllung gehe: die kleine Nixe muß keine Schmerzen leiden; ihre Stimme kehrt am Ende zurück, und sie, nicht die Prinzessin, heiratet den Prinzen. Aber ob Happy-End oder nicht, die meisten Märchen verstärken ein ähnlich deformiertes Idealbild vom vorbildlichen Mädchen. Fasziniert, wie wir nun einmal von der Verwandlung eines gewöhnlichen Mädchens in eine Person sind, die es wert ist, von einem Prinzen erwählt zu werden, bestätigen uns diese mythischen Geschichten über Liebe, daß das, was schließlich dessen Liebe erringt, ihre Schönheit und ihre Keuschheit,
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