Die heimliche Lust
ihr eigenes erotisches Angezogensein von Jungen oder Mädchen sprechen? Was wird geschrieben, um das sexuelle Erwachen einer Frau von ihrem Standpunkt aus zu schildern? Wo ist der Diskurs über ihre Begierde, die Geschichte ihrer sexuellen Neugier, der Ausdruck ihrer Lust?
Wo gibt es einen Dialog zwischen Müttern und Töchtern über sexuelle Lust — ein Dialog, der mit der Zeit ein Genre von Literatur hervorbringen könnte, das dem von Männern hervorgebrachten Genre gleichzusetzen wäre? Mütter ermahnen ihre Töchter, auf der Fiut zu sein, sich vorzusehen, sich zu schützen und »anständige« Mädchen zu bleiben; sie reden über die Mechanik von Sex und über die Folgen von leichtsinnigem Sex. Aber Töchter bekommen von ihren Müttern — oder sonst jemandem — nicht viel über sexuellen Lustgewinn zu hören. Wie könnte auch Schweigen etwas anderes hervorbringen als wieder Schweigen? Mädchen keinen kaum Bezeichnungen für ihre Geschlechtsorgane; im englischen Sprachraum bezeichnen sie ihre Genitalien als down there (da unten). Ohne Äußerung der erotischen Gefühle von Mädchen, ohne Gespräch zwischen Mutter und Tochter über das Erwachen des sexuellen Bewußtseins eines Mädchens, über Lust und Verlangen, wird es keine Sprache für sie geben, in der sie über ihre eigenen Erlebnisse sprechen könnten. Und weil sie nicht darüber sprechen, wird schnell geschlossen, daß Mädchen keine sexuellen Begierden haben. Denn warum sollten sie es nicht sagen, wenn es anders wäre?
Wir gehen viel zu sehr davon aus, daß die erotische Neugier eines Mädchens minimal sei, daß sie keine Erfahrungen mit ihrer eigenen Sexualität habe und daß Lust das Letzte sei, was ihr in den Sinn kommt — merkwürdig, wo wir doch wissen, wieviel sexuelle Gefühle eine Frau hat, wissen, daß ihre physische und emotionale Kapazität für sexuelle Lust ungeheuer und potentiell grenzenlos ist. Merkwürdig auch, wenn man bedenkt, daß Frauen untereinander darüber reden, wie mächtig ihre unterdrückten sexuellen Gefühle als kleine Mädchen waren, daß sie sich von den erotischen Gefühlen erzählen, die sie hatten, Spiele, die sie spielten, Phantasien, in denen sie schwelgten. Aber all dies ist subversiv; es ist ein Wissen, von dem man annimmt, es existiere nicht, obwohl uns das Gegenteil bekannt ist; ein Wissen, das Frauen angeblich nicht bewußt ist, das man sie zwingt zu vergessen.
Die wirkliche Sexualität eines Mädchens, das heißt, ihr eigenes sexuelles Erleben, wird somit im vorbildlichen Mädchen durch ein Konstrukt ersetzt, eine Kalkulation der Wirkung, die ihr Verhalten auf Jungen und auf ihren Ruf haben wird. Gedrillt, weder eine »Schlampe« noch »frigide« zu sein, auf Normen festgelegt, die von ihr fordern, anders zu wirken, als sie sein darf — sie muß sexy scheinen, darf aber nicht sexy sein ist die Sexualität des vorbildlichen Mädchens ein glänzender Köder: Sie existiert nur für den Genuß anderer. Später wird sie dazu benutzt werden, um sich einen Mann zu angeln, um Liebe zu bekommen, um geheiratet zu werden.
Ein Mädchen, dessen Geschichte Millionen von uns bewegt hat und dessen unerschrockene Offenheit wir so sehr bewundern, ist Anne Frank. Die wenigsten Leserinnen des Tagebuchs der Anne Frank wußten bis vor kurzem, wie sehr ihr Tagebuch einer Zensur zum Opfer fiel, die Anne mit dem Image des vorbildlichen Mädchens versehen sollte, und was das für uns, ihre Leserinnen, bedeutete.
Das Tagebuch von Anne Frank, das wir kennen und lieben, wurde stark überarbeitet, um dieses außergewöhnliche Mädchen, »das soviel wußte«, »in den Augen der Welt vollkommener oder akzeptabler oder beschützter erscheinen zu lassen, indem sie den Eindruck erweckte, weniger zu wissen, als sie wußte«. Jene Eintragungen, in denen Anne Frank ihre emotionalen Probleme thematisierte, zum Beispiel ihre komplizierte Beziehung zu ihrer Mutter und die sie in Anspruch nehmende Sexualität — wurden gestrichen, ausgelöscht. Nur in einer Fassung von Anne Franks Tagebuch mit dem Titel De Dagboeken van Anne Frank (dt. Die Tagebücher der Anne Frank, 1988), die 1986 vom Netherlands State Institute for War Documentation herausgegeben wurde, begegnen wir ihren wahren, unredigierten Gefühlen — Seite für Seite sind die zunächst gestrichenen Passagen neben der offiziellen Version angeführt. Nur hier darf Anne Frank sagen, was sie wußte, aussprechen, was sie dachte. Erst da wird sie zu dem leidenschaftlichen, freimütigen,
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